Aber so sehr er sich auch mühte, der Bruder des Khan war nicht imstande, den Gegner umzudrehen und seine Schulter auf den Boden zu drücken. Buriboko hatte seinen Blick auf den Khan gerichtet, als wollte er ihm etwas sagen, aber kein Laut kam über seine Lippen. Belgutai mühte sich, bis ihm der Schweiß aus dem Gesicht tropfte. Er sah den Khan Hilfe suchend an. Sein Blick sprach von der Unbesiegbarkeit des Dschurkin, von Belgutais Gehorsam gegenüber seinem Bruder, von seiner Bitte um eine Entscheidung und einen Befehl zur Lösung des Problems.
Der Khan nickte. Belgutai verstand. Schon seit Menschengedenken war der Ringkampf, der Streitfälle entschied, ein Gericht des Himmelsgottes. Der Urteilsspruch Tengers sollte nach dem Willen des Khan an dem Dschurkin vollstreckt werden.
Belgutai stellte sich breitbeinig über den am Boden liegenden Gegner. Dann ließ sich Belgutai langsam nieder, als wollte er sein Pferd besteigen, doch sein Knie drückte sich in Buribokos Rückgrat. Dann beugte er sich vor, verschränkte seine Hände unter Buribokos Hals. Ein schneller Ruck. Ein Krachen wie von einem brechenden Ast.
Belgutai drehte den Sterbenden vorsichtig auf den Rücken und trat zurück. Der Khan beugte sich über den Dschurkin.
»Ich hätte mich wehren können, Temudschin«, hauchte Buriboko.
»Ich weiß«, sagte der Khan sanft und wischte ihm mit seinem Ärmel den Schweiß aus den Augen.
»Von Belgutai hätte ich niemals besiegt werden können. Aber ich hatte ... Angst vor Euch, mein Khan.«
»Du brauchst jetzt keine Angst mehr zu haben, Buriboko. Tenger wird sich um die Unbesiegbaren kümmern.«
»Ich werde ihn von Euch grüßen«, flüsterte Buriboko atemlos und hauchte seine Seele aus.
Der Khan beugte sich über Buribokos leblosen Körper und schloss ihm die Augen.
Am Tag nach der Hochzeit zog meine Mutter in Mukalis Lager, das nur einen Tagesritt von dem Ordu des Khan entfernt war. Die neue Jurte aus schneeweißem Filz wurde gleich neben der des Beki aufgestellt. Mukali war in der Rangfolge nach Satscha und Buriboko der nächste Fürst aus dem Klan der Dschurkin. Er wurde ohne Gegenstimme gewählt.
Kökschus zurückgelassenes Zelt errichtete ich für mich selbst. Ich war nun zehn Jahre alt und wie mein Stiefvater der Meinung, dass ich seinen nächtlichen Aktivitäten im Bett meiner Mutter nicht mehr zusehen musste. Ich hatte Kökschus gesamten Besitz übernommen: seine Truhen, die zurückgelassenen Schamanengewänder, die Töpfe, das Teegeschirr aus Chin, die Filzdecken. Mir fehlte es an nichts. Die Mahlzeiten nahm ich zusammen mit meinem Stiefvater und meiner Mutter im Zelt des Fürsten ein, aber in der verbleibenden Zeit streifte ich durch das Ordu, das über mehr als vierhundert Jurten verfügte, ging auf die Jagd oder kümmerte mich um die Herde.
Wenn Mukali zu einer Besprechung der Noyans ins Ordu des Khan ritt, nahm er mich mit. Meist blieben wir nur ein oder zwei Nächte in einer der Gästejurten, dann kehrten wir ins heimatliche Ordu zurück.
Mukali führte sein Ordu in diesem Drachenjahr früh ins Herbstlager, das wir weit im Osten aufschlugen. Von einem Boten erfuhr ich, dass auch Subotai in diesem Herbst sehr weit nach Osten gezogen war. Mir schien beinah, als wollte der Khan Dschamuga und seine Gefolgsleute auf tatarisches Weidegebiet abdrängen.
Der Winter kam früh und mit aller Macht. An langen Winterabenden, an denen Mukali mit meiner Mutter beschäftigt war, saß ich allein in meiner Jurte. Ich durchwühlte Kökschus Holztruhen und ordnete die Dosen mit Kräutern und Wurzeln. Viele der getrockneten Blätter und Blüten kannte ich nicht. Aus unerfindlichen Gründen hatte unser Ordu keinen Schamanen, den ich nach den Pflanzen und ihrer Heilkraft hätte fragen können. Und so probierte ich die Kräuter an mir selbst aus. Ich kochte Tees, die ich schluckweise trank, bis ich irgendeine Wirkung feststellen konnte.
Bei einigen Tees reichten schon ein oder zwei Schlucke, um mir den Abend und die Nacht zu verderben. Ich fand einen Tee, der mich zwei Nächte und einen Tag lang so wach machte, als existierte die Welt zweifach, ein anderer ließ mich so schnell müde werden und einschlafen, dass ich nicht mehr auf das Feuer achten konnte. Der Funkenflug hätte beinahe meine Jurte abgebrannt. Ein anderer Tee erhitzte mich bis zum Fieber, sodass ich im ersten Wintermond ein Loch in das Eis des Flusses schlug, um mich zwischen den Eisschollen abzukühlen. Das Fieber hielt vier Tage an. Ich fand Kräuter gegen Schmerzen, gegen Wut, gegen Unentschlossenheit, gegen Angst. Was ich nicht fand, war ein Kraut gegen die Ungeduld, die mich quälte.
Dunkelheit allein genügt nicht für das Sehen . Erleuchtung ist die Fähigkeit des Schamanen, die Dunkelheit zu erhellen, in jener Dunkelheit zu sehen, was andere nicht erkennen können.
Je tiefer ich versank, desto stärker wurde der Schmerz. Ich ließ mich durch die Finsternis fallen und hoffte, irgendwann anzukommen. Der Schmerz war unerträglich. Ich hatte meine eigenen Grenzen überschritten und empfand die Leiden aller Menschen mit einer Intensität, als zerfleischte mich ein Wolf bei lebendigem Leib. Ich war nicht mehr Temur und doch so sehr Ich wie nie zuvor.
Die ganze Welt faltete sich ein und hielt mich fest. Die Vision war überwältigend und erbarmungslos. Sie zeigte mir die Hoffnungslosigkeit der menschlichen Existenz, von der Geburt bis zum Tod. Ein grausames Spiel, absurd und sinnlos. Dann eine neue Geburt ins nächste Leben hinein. Was war zwischen den Leben? Das Vergessen aller Erfahrungen. Ein neuer Anfang. Um was zu lernen? Dass die Welt Inferno und Ekstase zugleich ist?
»Temur!«
Das Inferno. Krieg, Leid, Schmerz, Tod. Um den Menschen in die Selbstbewusstheit zu treiben? Die Ekstase. Das Wissen um die Gesetze der Welt. Die Erschaffung neuen Lebens. Die Liebe, die Lust. Keine Frage nach dem Warum!
»Temur!«
Der Tod. Der Sturz in das Nichtsein, in die Finsternis ...
Mukali zerriss das Gewebe meiner Visionen. Ich stürzte in meinen Körper zurück und schlug hart auf dem Boden auf.
»Ich muss mit dir reden«, sagte Mukali, als er mir aufgeholfen und eine Schale Airag gereicht hatte.
»Worüber?«, fragte ich, noch immer benommen. Es war so dunkel im Zelt, dass ich Mukali kaum erkennen konnte.
»Darüber«, sagte er und deutete auf mein Schamanengewand. »Deine Mutter will nicht, dass du Schamane wirst, Temur.« Ich sah ihn wortlos an, während er das Feuer schürte. Die Flammen schlugen höher und es wurde heller in meiner Jurte. » Ich will es auch nicht«, fügte er nach einer Weile hinzu, als ob dieses Argument schlagkräftiger wäre als das erste.
»Aber ich will es, Mukali.«
Sein Blick maß sich mit meinem. Aber ich konnte ihm standhalten.
»Lass uns darüber reden, Temur. Bei einem Tee, der meine Seele nicht bis ins Blau des Himmels steigen lässt.«
Ich nahm den Topf mit dem kochenden Tee vom Feuer und stellte einen anderen mit Wasser auf, um grünen Tsaj zu kochen. Umständlich zerkleinerte ich in einem Lederbeutel eine Ecke des Teeziegels und warf das Pulver in das siedende Wasser. Ich sah Mukali dabei nicht an und konzentrierte mich auf das Teekochen, als sei es ein heiliges Ritual. Wenn er mir etwas sagen wollte, dann sollte er es tun.
Er schwieg sehr lange, als wollte er Wort für Wort überlegen, was er mir in welcher Reihenfolge sagen wollte. »Ich bin ein Noyan«, begann er. »Das ist im Frieden wie im Krieg eine sehr verantwortungsvolle Position.«
Ich siebte den Tsaj in die Trinkschalen, fügte einen Schuss Yakmilch dazu und reichte Mukali seine Schale.
»Ich werde künftig noch länger abwesend sein als in der Vergangenheit. Du bist jetzt elf Jahre alt.« Warum erzählte er mir das alles? Ich wusste selbst, wie alt ich war. »Es wird Zeit, dir eine Braut zu suchen«, sagte Mukali und ließ seine Worte einsickern wie Schmelzwasser in der Steppe. »Nach dem Frühlingsfest werden wir nach Westen zu den Kereit reiten, um dich zu verloben.«
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