1 ...8 9 10 12 13 14 ...42 »Und liebt sie Euch?«
»Vielleicht nimmt sie mich. Sie muss nicht.«
»Dann werdet Ihr Temudschins Stiefvater. Man sagt, sie wollen Temudschin zum Khan machen.«
»Woher bei allen Geistern weißt du das schon wieder? Du bist mir unheimlich, Temur. Immer weißt du Dinge vorher, bevor sie geschehen können. Kannst du in die Zeit hineinsehen?«
Kökschu begann, mich die Gesetze der Welt zu lehren. Das Gesetz der Einheit, das besagte, dass jeder Teil der Welt, ob sichtbar oder unsichtbar, aus zwei Teilen bestand. So wie Licht und Finsternis, Hitze und Kälte, Krieg und Frieden nur die beiden Teile einer Einheit waren, die keinen Namen besaß. Dass auch Himmel und Erde nur zwei Aspekte Gottes waren. Dass es die Wahrheit nicht gab, weder in dieser noch in der anderen Welt . Nur in beiden gleichzeitig.
Er ließ mich in seinen Schamanenspiegel blicken und ich erkannte mein seitenverkehrtes Bild. Je tiefer ich mich in jene Spiegelwelt versenkte, desto unwirklicher erschien mir die Welt diesseits des Spiegels. Irgendwo zwischen mir und meinem Spiegelbild lag die Ebene, um die gespiegelt wurde, und die war nicht wahrnehmbar. Diesen unsichtbaren Punkt nannte Kökschu die Ganzheit .
Die Menschen machen den Fehler, zu ignorieren, was ihre Sinne nicht wahrnehmen. Sie haben verlernt, zwischen den Zeilen zu lesen und das Ganze zu sehen. Alles Sichtbare ist nur Symbol. Die Wirklichkeit dahinter ist für den Menschen nicht erkennbar.
Die Schneeschmelze hatte noch nicht eingesetzt, als wir das Winterlager abbrachen und zu neuen Weideflächen zogen. Die Jurten wurden innerhalb weniger Stunden zerlegt und auf zweirädrige Wagen verladen, die von Yaks gezogen wurden. Die Truhen, Filzteppiche und Herdgestelle wurden auf die Lastkamele verteilt. Die Herden waren bereits Tage zuvor von den Männern zusammengetrieben worden. Pferde, Yaks, Ziegen, Schafe und Kamele scharrten auf den schneebedeckten Weiden rings um das Lager nach Gras.
Im ersten Frühlingsmond des Jahres des Schweins (1191) errichteten wir das Lager nahe den Quellen des Kherlen. Fürst Dschamuga schlug wenige Tage nach uns sein Lager in der Nähe auf. Auf dem Weg dorthin machte er mit seinen engsten Freunden Rast in Todas Zelt.
Todas Erste Gemahlin war eine Cousine von Dschamuga. Und ihr Sohn Jesutai war im gleichen Alter wie Dschamugas Tochter. Deshalb nahm mein Freund an dieser Unterredung im Zelt des Beki teil. Warum ich dabei war, wusste niemand. Aber es fragte auch niemand.
Toda empfing Dschamuga mit allen Ehren, seine Frau empfing ihren Cousin mit einem Hammelbraten, der dem Neujahrsfest angemessen gewesen wäre. Wie selbstverständlich ließ sich Dschamuga nach seinem Eintreten in Todas Jurte und dem zeremoniellen Beriechen seiner Verwandten auf dem Ehrenplatz gegenüber dem Jurteneingang nieder, nicht auf der ihm als Gast traditionell zustehenden Westseite der Jurte. Und obwohl Dschamuga fast zwei Jahre jünger war als Toda und sein Rang als Beki der Dschalair nicht höher war als der des Beki der Kiyat, duzte Dschamuga Toda wie einen jüngeren Bruder.
Während Toda die Hammelstücke verteilte, beobachtete ich Dschamuga. Er war so groß wie Temudschin. Seine kostbare Seidendeel war elegant geschnitten und betonte seine muskulösen Schultern. Der silberverzierte Schwertgurt stammte vermutlich von einem Beutezug in einem der chinesischen Dörfer nördlich der Großen Mauer. Der Beki trug sein schwarzes Haar in aufgesteckten Zöpfen, die seitlich der Ohren durch verzierte goldene Ringe gehalten wurden. Dschamuga untermalte jedes seiner Worte mit einem charmanten Lächeln, dessen Intensität er offenbar genau unter Kontrolle hatte. Es war das Lächeln eines Tigers.
Schon während des Essens drehte sich das Gespräch nicht mehr um die Herden, die neuen Weidegründe und die gemeinsame Jagd der beiden Klans, sondern um Loyalität, Bündnisse und Erwartungen. Ich begann mich zu fragen, ob Dschamuga seinen Frühlingslagerplatz mit Bedacht gewählt hatte. Er schien Toda Beki und sein Ordu als Beute zu betrachten, die es durch geschicktes Taktieren zu gewinnen galt. Er wollte Toda, der durch seine Unentschlossenheit zum Machtfaktor in der Steppe geworden war, seinem Anda Temudschin abjagen und als Trophäe in sein Ordu führen. Hierzu setzte er jedes Mittel ein: Nettigkeiten, Versprechen und Drohungen.
»Der Zusammenhalt der Stämme ist seit Kutula Khans Tod zerbrochen. Kutula starb als Besiegter. Mit ihm haben wir alle verloren. Wir brauchen einen starken Führer.« Dschamuga überließ es Todas Vorstellungsvermögen, wen er als starken Führer betrachtete. »Mein Anda Temudschin ist ein Mitglied der Familie von Kutula Khan. Vielleicht werden ihm die Bekis bald die Khanwürde anbieten. Vielleicht auch nicht, denn im Augenblick bin ich der Stärkere.«
Offenbar war sich Dschamuga seines Rufes nicht bewusst. Mondelang galt er als der geeignete Kandidat für die Wahl zum Khan, aber sein Ruf als unzuverlässiger Führer eilte ihm voraus. Temudschin hingegen galt als gerecht, großzügig und verwegen, besaß also genau jene Eigenschaften, die man seinen Verwandten Kutula und Ambakai Khan zuschrieb.
»Mag sein«, gestand Toda dem Cousin seiner Frau zu. »Aber Ihr züchtet Schafe, während Temudschin Pferde züchtet. Mit Schafen kann man keinen Krieg führen.«
»Jeder meiner Krieger verfügt über mehr als zehn Pferde. Ich bin in der Lage, Temudschin in einer einzigen Schlacht zu schlagen.«
»Warum sucht Ihr dann ein Bündnis mit mir?«
»Du hast Recht, Toda. Im Augenblick bist du nicht gerade in einer starken Position, wenn deine Gefolgsleute zu Temudschin überlaufen. Munlik hat vor wenigen Wochen Temudschins Mutter geheiratet. Er ist jetzt der Stiefvater meines Anda.« Dschamuga lachte. Dann besann er sich und beantwortete Todas Frage: »Ich brauche fähige Noyans.«
»Gegen Temudschin?«
»Ja«, sagte Dschamuga.
»Ihr versprecht mir also ein Kommando?« Dschamuga glaubte schon, Toda im Netz seiner Worte gefangen zu haben, als Toda einwandte: »Ich habe keine Erfahrung in der Kriegführung. Ich habe noch nie ein fremdes Ordu überfallen, um Beute zu machen.«
Dschamugas Blick verfinsterte sich. Doch nur für einen Augenblick, dann trat das Lächeln wieder in seine Mundwinkel. Er spielte mit Toda wie ein Tiger mit seinem Abendessen. Irgendwann würde er zuschlagen. »Das macht nichts, Cousin. Wir werden ein leichtes Spiel haben.«
»Temudschin ist ebenfalls mein Cousin«, wandte Toda ein.
»Ich weiß. Das wird ihn nicht davon abhalten, dich deines Titels als Beki zu entheben, wenn er Khan ist.«
Toda sah Dschamuga nachdenklich an. »Er hat mich mit ähnlichen Worten vor Euch gewarnt, Fürst Dschamuga.«
Dschamuga lachte und trank seine Airag-Schale leer, um sie sich von seiner Cousine nachschenken zu lassen. »Ich kenne meinen Anda gut. Seine Worte waren mit Bedacht gewählt. Er hetzt dich wie einen seiner Hunde gegen mich. Aber nicht mehr lange.«
War Dschamuga nicht bewusst, wie sehr er Toda durch den Vergleich beleidigt hatte? Todas Lippen verkrampften sich einen Augenblick. Er durfte sich nicht herausfordern lassen. »Die meisten Klans wollen einen Khan«, sagte er. »Wir bekriegen uns gegenseitig, statt unter einer starken Hand vereint gegen die Chin oder die Tatar ins Feld zu ziehen.«
»Ich werde als Khan unser Volk vereinigen«, versprach Dschamuga. »Ich werde eine neue Dynastie gründen.«
Das war Todas Stichwort, seinen Sohn ins Spiel zu bringen. Er winkte ihn zu sich heran und ließ ihn neben sich Platz nehmen. »Ich will Euch meinen Sohn Jesutai vorstellen, Dschamuga Beki.«
Dschamuga nahm Jesutais Hand und zog ihn zu sich herüber. »Er hat Glanz in den Augen. Er wird ein großer Krieger werden.« Dann wandte er sich an Jesutai. »Wie alt bist du, mein Sohn?«
»Sechs Jahre alt, Beki.«
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