Während ich auf meiner Filzmatte lag und über den Traum nachdachte, konnte ich alles wieder sehen und empfinden. Ich spürte den Sand, den Schnee und das Meer. Ich fühlte die Hitze und die Kälte. Ich sah Himmel und Erde. Ich roch den Duft der Steppe und spürte den Wind auf meiner Haut. Aber wenn ich nach den Sinn der Worte und Bilder suchte, die meine Gedanken zerfaserten, dann war dort nur Nebel. Ich konnte fühlen, aber nicht verstehen.
Aber ich erinnerte mich deutlich an die Bilder und die Worte, die mit ihnen zusammen aus meinem Gedächtnis aufstiegen. Nichts, was ich je mit meinen Augen sah, war so hell und klar wie das, was ich gesehen hatte, und keine Worte, die ich jemals mit meinen Ohren gehört habe, waren gleich den Worten, die ich vernommen hatte.
Je älter ich wurde, desto deutlicher wurde für mich der Sinn dieser Bilder und Worte. Heute weiß ich, dass mir mehr offenbart wurde, als ich jemals mitzuteilen vermag. Dieser Traum war mein Leben, mein Auftrag, mein Wesen, meine Bestimmung. Er war alles . Er war Ich.
Von den siebenundneunzig Jurten unseres Ordu waren fünfundsechzig verbrannt worden. Die Pest hatte ganze Familien ausgelöscht, den Mann, die Frauen, die Kinder. Wir Mongol gingen damals sehr pragmatisch mit dem Tod und seiner Hinterlassenschaft um. Die überlebenden Frauen und Kinder wurden auf die anderen Familien verteilt und lebten nun in anderen Zelten. Das Ordu war so ausgestorben, dass wir in diesem Herbst nicht weiterziehen konnten. Wir waren nicht genug Leute, um unseren Besitz zusammenzupacken und auf die Pferde und Kamele zu verladen.
Die großen Herden des ehemals reichen Ordu hatten die umliegenden Weiden bereits vor Wochen, bei Ausbruch der Pest, abgegrast und fanden nun kein Futter mehr. Die Tiere entfernten sich auf der Suche nach Nahrung immer weiter vom Lager. Die Männer waren zu geschwächt, um tagelang durch die Steppe zu irren, um die Tiere wieder zusammenzutreiben. Und der Winter kam früh in diesem Jahr. Der erste Schnee fiel im ersten Herbstmond.
Warum hatte ich überlebt und alle anderen nicht? Warum ich? Warum war ich zurückgekehrt, nachdem ich einen Blick hinter den Letzten Horizont geworfen hatte?
»Tenger hat dir ein neues Leben geschenkt, damit du Schamane wirst«, erklärte mir Kökschu beim Abendessen in unserer Jurte.
Der Schamane hatte sich in den letzten Wochen öfters selbst zum Essen bei uns eingeladen. Mir war nicht klar, ob es ihm um meine Seele oder den Körper meiner Mutter ging. Oder um das Essen, das sie ihm vorsetzte.
»Ich habe keinen Vater, dem ich nachfolgen könnte.«
»Und ich habe keinen Sohn, Temur. Du könntest mir nachfolgen.«
Meine Mutter sah den Schamanen missbilligend an. Hielt sie Kökschus Worte für einen erneuten Versuch, in ihr Bett zu kommen? Seine letzten Bemühungen waren bereits in der Planungsphase von meiner Mutter zunichte gemacht worden.
»Ich habe keine Geister ...«, begann ich.
»Ich werde dich lehren, sie zu rufen«, versprach der Schamane. »Ich werde dich alles lehren, was ein Schamane wissen muss.«
»Das werdet Ihr nicht tun, Kökschu!«, protestierte meine Mutter.
»Du hast ihn vom Himmel empfangen! Gib ihn dem Himmel zurück!«, forderte der Schamane.
»Er gehört mir. Mir allein!«
»Er hat die Fähigkeit«, sagte Kökschu.
»Er hat sie nicht .«
»Er hat sie wie sein Vater«, sagte Kökschu.
Ich war überrascht. Und wütend! Er wusste also doch, wer mein Vater war! Warum sprach niemand mit mir darüber?
»Wenn die Zeit gekommen ist, wird Temur wissen, zu wem er gehört. Bis dahin werde ich ihn lehren. Er wird ein Schamane werden.«
»Es ist Zeit!«, flüsterte Kökschu.
Ich lag neben meiner schlafenden Mutter unter einem Schaffell. Mein Gesicht hatte ich gegen ihre nackten Brüste gepresst, nachdem Toda gegangen war, und in dieser Stellung waren wir eingeschlafen.
Kökschu kniete neben mir und hob das Fell an. Die eisige Kälte ließ mich frösteln. »Es ist Zeit! Komm, Temur!«
»Wohin?«, fragte ich verschlafen.
Kökschu antwortete nicht. Und er wartete nicht auf mich.
Ich schlüpfte unter der Decke hervor und zog mich eilig an: Hosen, Stiefel, Deel und Dacha, zuletzt die Malgaj aus Wolfspelz. Dann trat ich hinaus in die Nacht.
Die flache Einsamkeit war durch den Weißmond hell erleuchtet. Eine wie Glasscherben funkelnde Schneeschicht bedeckte die steinhart gefrorene Steppe. Die Kälte brannte auf meinem Gesicht wie Feuer. Ich hätte mir das Gesicht mit Bärenfett einreiben sollen, um es zu schützen.
Neben der Jurte wartete Kökschu in der weißen Wolke seines Atems. Unter seinem Wolfspelzmantel trug er das lange Schamanengewand. Ich folgte ihm durch Schnee und Eis bis zum Rand des Ordu. Dort blieb er wie angewurzelt stehen. »Von hier an musst du alleine gehen!«, forderte er mich auf.
»Wohin?«
»Zum Schneehorizont. Du musst beginnen, deinen Traum zu verwirklichen. Heute Nacht.«
Kökschus Tonfall ließ keinen Widerspruch zu. Überzeugende Argumente wie eine warme, weiche Bettdecke neben einer noch glühenden Feuerstelle tat er mit einer einzigen Handbewegung ab.
Also lief ich los. Durch die Kälte. Durch die Nacht. Im silbernen Licht des Mondes. Der Schnee knirschte unter meinen Stiefeln.
Zuerst lief ich viel zu schnell und kam rasch außer Atem. Die kalte Nachtluft stach in meiner Lunge. Dann wurde ich langsamer und das Atmen wurde erträglicher. Ich schlug den Pelzkragen meiner Dacha hoch, sodass Nase und Mund bedeckt waren.
Nach mehreren hundert Schritten drehte ich mich um und sah Kökschu am Rand des Ordu stehen. Würde er dort warten, bis ich zurückkehrte?
Ich lief einen Hügel hinauf. Meine Reitstiefel hatten flache Absätze, die ich in den Schnee bohrte, um Halt zu haben. Einmal fiel ich hin, doch ich erhob mich und rannte weiter.
Wohin sollte ich überhaupt laufen? Kökschu hatte mir nicht gesagt, wie weit der Horizont entfernt war. Also wollte ich erst einmal auf den nächsten Hügel laufen, um mich dort umzusehen. Mein nächstes Ziel war eine einsame Weide. Ich brauchte lange, bis ich dort war. Zu Pferd war die Strecke in kurzer Zeit zu bewältigen, aber laufend brauchte ich viel länger.
Als ich den Baum endlich erreichte, war ich trotz der eisigen Kälte unter meiner Felldacha nassgeschwitzt. Wenn ich jetzt stehen blieb, würde ich auskühlen und krank werden. Also teilte ich mir meine Kräfte ein und lief weiter, immer weiter.
Vom Baum aus gesehen war der Horizont nicht besonders weit entfernt gewesen, gleich hinter dem nächsten Hügel. Dorthin lief ich. Aber je weiter ich mich vom Ordu entfernte, desto ferner schien mir der Horizont. Auf dem übernächsten Hügelkamm schien er unerreichbar. Und trotzdem lief ich weiter.
Der Mond neigte sich über den Horizont vor mir. Ich war wohl schon über eine Stunde unterwegs. Ich war müde, aber ein Stückchen wollte ich noch laufen. Ob Kökschu noch auf mich wartete?
Als der Mond untergegangen war, wurde es finster in der Welt. Die Trennlinie zwischen Himmel und Erde war verschwunden. Ich blieb stehen. Nirgendwo war noch ein Stückchen Horizont zu sehen. Finsternis. Einsamkeit. Nichts. Nur ich selbst.
Was sollte ich tun? Ich hatte den Horizont nicht erreicht, wie Kökschu es mir aufgetragen hatte. Ich wollte mich auf den Rückweg machen. Ich suchte in der Dunkelheit die Spuren, die ich hinterlassen hatte. Aber ich konnte nichts erkennen. Als ob ich nie hier gewesen war!
Welche Spuren kann ein Mensch in der Welt hinterlassen, damit man sich seiner erinnert? Er kann mutige Taten vollbringen, die am Lagerfeuer erzählt werden. Er kann Schlachten schlagen und Reiche erobern. Er kann zerstören und wiederaufbauen. Er kann die Wahrheit über sich selbst herausfinden, aber das wird nie jemand außer ihm selbst erfahren. Ich wollte leben, um all das nachzuholen! Um meinen Traum zu verwirklichen! »Suche deinen Vater!«, hatte das Feuerpferd in meinem Traum befohlen. Wo sollte ich nach ihm suchen? Oder hatte ich ihn bereits in Kökschu gefunden, der mich als seinen Sohn und möglichen Nachfolger als Schamane bezeichnet hatte?
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