Am Tag des Frühlingsfestes wurden alle Stuten zusammengetrieben und vom Schamanen geweiht. Ich hatte die Fohlen unserer Herde ausgesondert und ebenfalls zum Ordu getrieben. Dann band ich sie an ihren Halftern an einem gespannten Seil vor unserer Jurte fest. Meine Mutter ließ die Fohlen jeweils nur wenige Schlucke bei den Stuten trinken, dann zog ich die Jungen zur Seite und band sie wieder fest. Die Stutenmilch schäumte in den Melkeimern. Ich füllte die frische Milch in große Ledersäcke und begann die süßliche Flüssigkeit so lange zu schlagen, bis sie sauer geworden und in Gärung übergegangen war.
Am späten Nachmittag wollten Jesutai und ich die Fohlen auf die Weiden bringen. Sein Vater hatte die Stuten bereits nach dem Melken zurückgetrieben. Ich ritt hinüber zu Todas Jurte, wo Jesutai auf mich wartete. Seine Mutter hatte Aaruul-Quark und einen Schlauch mit frisch geschlagenem Airag hinter seinem Sattel aufgeschnallt.
Jesutais Brustlatz war ebenso ausgebeult wie meiner. Auch er trug eine Trinkschale bei sich.
Mit einem Trick gelang es mir bereits mit sechs Jahren, mich allein in den Sattel zu schwingen, während der sechs Monde ältere Jesutai noch immer von seinem Vater oder seiner Mutter auf das Pferd gehoben werden musste. Ich zog mich mit beiden Händen am Sattel hoch, um meinen linken Fuß in den viel zu hohen Steigbügel zu stecken. Ich hasste es, wenn mir jemand beim Aufsteigen half. Beim dritten Anlauf schwang ich mein rechtes Bein über den hohen Sattel und saß auf dem Pferd. Jesutai, der drei Fingerbreit kleiner war als ich, musste einen Baumstamm benutzen, um in den Sattel zu kommen. Ich sah nicht hin, um ihn nicht in Verlegenheit zu bringen.
Als wir den letzten Jurtenkreis hinter uns gelassen haben, trieben wir unsere Pferde zum Galopp an. Die Fohlen konnten uns kaum folgen. Jesutai hatte eine Pferdelänge Vorsprung, als ihm die Idee kam, ein Wettrennen zu veranstalten. »Wer zuerst bei dem Baum dort ist, darf den ersten Schnitt ausführen!«, rief er mir zu.
Ich hieb mit meiner Reitpeitsche auf mein Pferd ein. Der bezeichnete Baum stand auf einem Hügel am Horizont. Leicht wie eine Windbö galoppierte mein Pferd auf den Hügel zu. Innerhalb weniger Minuten hatte ich Jesutai überholt. Ich beugte mich tief über die Mähne und warf ihm einen triumphierenden Blick zu, als ich an ihm vorbeizog.
Doch schon wenig später befand sich Jesutais Pferd auf einer Höhe mit mir. »Glaub nicht, dass du mich abhängen kannst, Temur!«, rief mir Jesutai zu. Aber er lachte nicht. Sein Gesicht zeigte den verbissenen Ausdruck eines Menschen, der nicht verlieren konnte. Er trieb sein Pferd noch schneller an, obwohl das Tier von dem scharfen Ritt bereits schnaufte. Das Pferd schreckte jedes Mal zusammen, wenn Jesutai einen neuen Schlag mit seiner Reitpeitsche ausführte. Wusste er nicht, dass es nicht schneller galoppieren konnte?
Jesutai erreichte als Erster den Baum. Er sprang ab, schlang die Arme um den Stamm und lachte triumphierend: »Ich habe gewonnen!«
»Du hast gewonnen!«, bestätigte ich gnädig. Gewinnen ist nicht wichtig. Überleben ist wichtig.
Jesutai ergriff die Zügel meines Pferdes. Ich sprang ebenfalls aus dem Sattel. Er füllte unsere beiden Schalen mit dem starken Airag, der für seinen Vater bestimmt war. Der würde toben, wenn der Schlauch halb leer war, aber zu einer ordentlichen Anda-Zeremonie gehörte eben Airag. Wir leerten feierlich die Schalen. Das berauschende Getränk stieg mir in den Kopf, so wie Kökschus Tee. Jesutai schenkte sofort nach. Nachdem ich erneut getrunken hatte, fühlte ich mich so leicht wie ein Habicht, der nach Mäusen sucht. Ich musste mich an Grashalmen und Edelweißblüten festhalten, um nicht in den Himmel zu stürzen.
Jesutai hatte offensichtlich mehr Erfahrung mit Airag und schenkte die dritte Schale ein, die er mir reichte. Wenn meine Mutter davon erfuhr, wurde sie mich schlagen! Aber was sollte ich tun? Ich musste diese Schale leer trinken, wenn Jesutai mich nicht als Feigling bezeichnen wollte.
Der Himmel begann sich um mich zu drehen. Ich war der Mittelpunkt der Welt. Dann drehte sich auch die Welt um mich, aber irgendwie nicht in die richtige Richtung oder in der richtigen Geschwindigkeit.
Jesutai stand über mir und zog mich auf die Beine. »Bist du bereit?«
»Ich bin bereit.« Die Welt kam langsam zur Ruhe und auch die Schmetterlinge in meinem Bauch beruhigten sich wieder.
Jesutai zog seinen Dolch und reichte ihn mir. Ich ritzte mit der scharfen Klinge meinen Unterarm, während Jesutai eine vierte Schale Airag einschenkte. Dann reichte ich Jesutai meinen Dolch, damit er sich die Ader am Handgelenk öffnete. Wir ließen einige Tropfen unseres Blutes in den Airag fallen und tranken das Blut des Freundes.
»Ich schwöre feierlich, dir als meinem Anda in der Gefahr gegen Tod und Verderben beizustehen«, sagte Jesutai.
»Und ich schwöre feierlich, dir als meinem Anda in der Not gegen Hunger und Kälte beizustehen«, sagte ich. »Lass uns nie gegeneinander kämpfen, Jesutai. Nicht wie Temudschin und Dschamuga.«
»Nein, Temur, denn jetzt sind wir wirkliche Brüder.«
»Jetzt sind wir Brüder«, sagte ich dem Zeremoniell entsprechend. »Was meinst du mit wirkliche Brüder?«
»Irgendwie waren wir das vorher schon, nicht wahr? Mein Vater schläft mit deiner Mutter.«
»Woher weißt du das?«, fragte ich überrascht.
»Ich habe Augen zu sehen und Ohren zu hören. Er schleicht sich manchmal nachts aus dem Zelt, aber nicht, um nach den Pferden zu sehen «, sagte Jesutai. »Ich bin ihm ein Mal gefolgt.«
Am Ende der Zeremonie tauschten wir unsere Geschenke aus. Ich gab Jesutai meine Wurfknöchel, und er schenkte mir einen Singenden Pfeil. Dann schwangen wir uns in die Sättel und ritten mit den Fohlen zur Pferdeweide.
Toda Beki saß mit Kökschu auf einem Stein und spielte mit Knöcheln. Er erhob sich bei unserem Anblick. »Ihr seid spät dran!«, schimpfte er. »Wir haben Hunger!« Mit einem Stirnrunzeln sah er unsere verbundenen Unterarme.
Ich war überrascht, Kökschu neben Toda im Gras hocken zu sehen. Hatten sie wieder gestritten? Offensichtlich fehlte Toda sein Lieblingsfeind Munlik, denn er provozierte nun Munliks Sohn Kökschu und ließ sich mit ihm auf endlose Wortgefechte ein. Toda hatte eines Abends vergessen , Kökschu zur Ratsversammlung einzuladen. Kökschu hatte mir gegenüber vermutet, dass der Beki ihn aus dem Lager treiben wollte, weil jener ihm orakelt hatte, dass Toda keine Zukunft habe, weder mit Dschamuga noch mit Temudschin. Doch Toda hatte noch nicht alle seine Pfeile verschossen. Er beschuldigte den Schamanen, zweifelhafte Prophezeiungen zu machen, die nur deshalb eintrafen, weil ihre Auslegung durch Kökschu selbst rätselhaft und unverständlich war. Aber auch das war noch nicht das Ende ihres Krieges, dessen wertvollste Beute meine Mutter war.
Jesutai stieg nicht ab, sondern reichte seinem Vater den in ein Tuch gewickelten Aaruul und den Schlauch mit Airag vom Pferd herunter. Toda Beki sah uns beiden ins Gesicht und erkannte unseren Zustand. Aber er sagte nichts. Seine Mundwinkel zuckten, als er den Quark und den Airag entgegennahm und zu Kökschu zurückkehrte, der bereits auf die Mahlzeit wartete.
»Findet ihr den Rückweg?«, war das einzige, was Toda zu seinem Sohn sagte.
Jesutai richtete sich im Sattel auf und warf seinem Vater einen vernichtenden Blick zu. Er riss die Zügel seines Pferdes herum und stob an mir vorbei die Hügel hinauf.
Das Hüten einer Herde ist das langweiligste, was einem Sechsjährigen aufgetragen werden kann. Im Lauf der Monde hatte ich ein Spiel erfunden, das ich während der langen einsamen Stunden auf der Weide spielte. Ich ritt Angriffe gegen die feindlichen Truppen. Die weißen und grauen Hengste und Stuten waren die gegnerischen Klans, die braunen und schwarzen waren meine Verbündeten. Auf meinem Lieblingspferd galoppierte ich durch die Reihen der Weißen und Grauen, wirbelte mein hölzernes Schwert über dem Kopf und schoss im Galopp Pfeile auf die Lilien im Gras.
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