Er nahm einen letzten Zug von seiner Zigarette, zog einen Taschenaschenbecher aus seiner Jacke, und steckte die Kippe hinein. Während er den Ascher wieder in die Tasche steckte, fixierte er Wester mit seinem Blick. Der versuchte sich immer noch warm zu halten, und zeigte dabei tapfer ein fast gefrorenes Lächeln.
„Sie sind ein guter Ingenieur, soweit ich das bei den ersten Meetings feststellen konnte, aber sie müssen sich schnell an die Bedingungen hier anpassen, sonst könnte es schlimm für sie enden. Sie wollen doch nicht Wochen, oder Monate, auf der Krankenstation verbringen, bis sie ein Schiff abholen kann, geschweige denn ein Flugzeug.“
Der deutsche Ingenieur hielt dem Blick stand, und versuchte, bereites halb erfroren, zuzustimmen, sofern er sich noch bewegen konnte.
„Ich bin für jeden Hinweis dankbar, der hier den Aufenthalt leichter für mich macht, aber ich habe noch viele Fragen bezüglich der Vördertechnik, Dr. Miles.“
Burton hielt den Blick von Wester noch einen Moment fest, und seufzte dann kaum merklich.
„Sie können das Dr. Miles weg lassen. Wir nennen uns hier alle beim Vornamen, soweit sie die schon kennen. Ich mache ihnen einen Vorschlag, Armin. Sie stellen mir eine Agenda mit ihren Fragen zusammen, lassen mir die Liste zukommen, und wir treffen uns heute um 18 Uhr Südpolarzeit in Besprechungsraum 1. Dann gehen wir alles durch, OK?“
Die Augen von Wester leuchteten dankbar, soweit sich sein Gesicht noch bewegen ließ.
„Danke Dr. Miles, äh …, ich meine Burton.“
Der Ingenieur deutete ein Lächeln an, und wand sich zum Gehen, drehte sich aber noch einmal um.
„Noch eins Armin, wenn sie im Gebäude dauernd mit dicken Pullovern rumlaufen, und dann an der Oberfläche nicht einmal eine Mütze aufziehen, müssen sie sich über Frostbeulen nicht wundern. Tragen sie drinnen nur Sweatshirts, und wenn sie nach draußen gehen wollen, besorgen sie sich einen Gesichtsschutz und eine Sonnenbrille, sonst werden sie mir noch Schneeblind, verstanden?“
Wester blinzelte zur Bestätigung, und fragte mit klappernden Zähnen.
„Burton, warum heißt die Station eigentlich Exlux? Wäre ein Name, wie „ Siegfried “, oder etwas in dieser Art, für eine erfolgreiche Ölplattform nicht besser gewesen?“
Der Chefkonstrukteur ignorierte zunächst die Fragen, und betrat wieder den wissenschaftlichen Container. Er ging auf seinen Spind zu, hängte seine Jacke hinein, und warf einen prüfenden Blick auf den jungen Mann.
„Sie hatten doch sicher Latein in der Schule, oder Armin?“
„Sicherlich, auch wenn es nicht gerade mein Steckenpferd war.“
Burton grinste seinen Assistenten jetzt breit an.
„Dann finden sie es in ein paar Wochen bestimmt selber raus.“
Sie machten sich wieder auf den langen Weg, nach unten in die Steuerungszentrale, und er verlor kein weiteres Wort, um Licht in die Sache zu bringen. Burton hatte die Station „Exlux“ getauft, nachdem sie hier den ersten Winter verbracht hatten, und das Wetter ihnen 20 Tage fast völlige Finsternis beschert hatte. Wer hier am Südpol ein schwaches Gemüt hatte, oder zu Winterdepressionen neigte, sollte sich lieber davon machen, solange es noch möglich war.
Es kam nicht von ungefähr, dass die Station mit vielfältigen Freizeitmöglichkeiten ausgestattet war. Bereits zwei Mitarbeiter hatten die Nerven verloren, und waren in die Nacht raus gegangen, und nicht wieder zurückgekehrt. Auf weitere Abgänge konnte Burton verzichten, denn der letzte Mitarbeiter war der Ingenieur für Fördertechnik gewesen, der im letzten Jahr, bei klarem Wetter die Station verlassen hatte, und dann von einem Schneesturm überrascht wurde. Sie hatten Olof Hansen nicht wieder gefunden, und fast ein Jahr gewartet, bis jetzt ein Ersatz geschickt worden war. Er und Olof waren Freunde gewesen, da beide bereits seit der ersten Stunde hier zusammen gearbeitet hatten. Als Norweger wusste Olof um die Gefahren am Südpol, aber auch die besten Männer konnten Fehler machen, wie Burton hatte feststellen müssen.
Sein Mitarbeiter verließ den Fahrstuhl in der Leitzentrale, um in seinem Büro alle notwendigen Fragen aufzulisten. Die Türen der Kabine schlossen sich wieder, Burton steckte einen Schlüssel in das Bedienungspaneel, und drückte Etage 214. Er war spät dran, denn Wester hatte ihn aufgehalten.
Etage 214 war, wie die meisten Stockwerke, unbewohnt, und lag im Nirwana des riesigen Towers, so jedenfalls war die offizielle Einstufung in den Unterlagen. Burton wusste es besser, denn er bestimmte, welche Ebene, für was verwendet, oder eingerichtet wurde.
Der Lift hielt an, und er zog den Schlüssel eilig ab. Gewissenhaft schickte er die Kabine wieder nach unten, zu den technischen Anlagen, und stieg aus. Mit einem Blick auf die Uhr stellte er fest, dass er nur noch eine halbe Stunde Zeit hatte, bis die nächste Besprechung anfing, und er war immer pünktlich. Burton beschleunigte noch einmal seine Schritte, und verschwand in der Dunkelheit der ersten Räume. Er konnte es kaum noch erwarten, Julie zu sehen.
Es war kalt, und es schneite winzige Flocken, die so leicht wie Staub schienen. Die Schneekristalle fielen auf den gefrorenen Boden, hoben sich wieder, bildeten Wirbel, fielen wieder zurück auf die Erde, und sammelten sich in Ecken, wo sie vor dem Wind geschützt liegen blieben, und kleine Haufen bildeten.
Die dunkle Limousine fuhr auf den übersichtlichen, fast dreieckigen Parkplatz, und hielt dicht vor einer braunen Hecke, die jetzt im Winter weder Tier noch Mensch wirklichen Schutz bot.
Die Fahrertür öffnete sich, und Frank Kremer stieg aus. Er streckte sich, und zog den Kragen seines Mantels fester in seinen Nacken. Er war zuletzt vor sechs Monaten auf dem kleinen Friedhof in Hubbelrath gewesen, der direkt an der Hauptsrasse am Ortseingang lag. Er ging schnellen Schrittes auf den Eingang zu, als in der Ferne wieder die Glocken anfingen zu läuten.
Mit einem schnellen Blick auf seine Uhr, stellte er fest, dass es schon 11 Uhr war. Der Gottesdienst am Ostersonntag war jetzt bald beendet, und für eine kurze Zeit würden sich die Strassen wieder füllen, bis die Kirchgänger wieder in ihren behaglichen Behausungen angekommen waren, um mit ihren Familien gemeinsam zu feiern.
Er hatte schon am Morgen seinen Sohn Philipp besucht, und das Geschenk seiner Exfrau übergeben. Am Abend wollte Birgit, mit ihrem neuen Mann, und seinem Sohn, für eine Woche zum Skifahren nach Reit im Winkl fahren. Danach würde Philipp ein paar Tage bei ihm verbringen.
Der Kommissar war hier, im Oktober letzten Jahres, bei der Beerdigung von Karl Koenig gewesen. Er hatte die Mutter von Sarah so gut unterstützt wie er konnte. Trotzdem fühlte er sich immer noch schuldig, dass er damals nicht den Schützen aufgehalten hatte.
Carola Koenig hatte darauf bestanden, bei der Zeremonie im familiären Kreis zu bleiben, was vielen Politikern, und langjährigen Geschäftspartner missfallen hatte. Er hatte dafür gesorgt, dass die Trauerfeier ohne Fotografen und Promiauflauf statt fand, indem er den Bereich von Polizeikräften abschirmen lies. Eine der letzten Amtshandlungen vom damaligen Polizeipräsidenten Manfred Stoll. Carola hatte ihm damals gesagt, dass sie lange genug ihren Mann mit der Öffentlichkeit geteilt hätte, und nun wenigstens bei der Beerdigung einen letzten Augenblick mit ihrem Mann alleine sein wollte. Das konnte Frank nachvollziehen.
Er verlangsamte seine Schritte, die immer noch keine Spuren auf den gepflegten Wegen hinterließen, und suchte nach dem Grabstein der Familie Koenig, in einer der letzten Reihen auf der rechten Seite. Als er die Grabstätte erreichte, sah er, dass schon jemand an der Einfriedung stand, so wie er es gehofft hatte. Frank stellte sich dazu, steckte die Hände in die Manteltaschen, und schwieg. Die junge Frau mit engelsblondem Haar sah ihn kurz an, aber ihr Gesicht blieb unbewegt.
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