„Ich mach Schluss für heute“, verabschiedete sich Hannah.
Julia blickte zu ihr auf. „In Ordnung. Muss das hier noch schnell fertig machen, dann bin ich auch weg. Dabei fällt mir gerade ein, hast du in dieser Woche abends mal Zeit für ein Bierchen? Sven, ein ehemaliger Studienkollege von Patrick ist aus beruflichen Gründen neu in die Stadt gezogen. Er braucht ein bisschen Unterhaltung und einen Stadtführer.“
„Klar, bin immer für ´ne kleine Abwechslung zu haben.“
„Soll laut Patrick übrigens ein ganz Netter sein“, ergänzte Julia augenzwinkernd.
„Wenn das so ist, sollte ich es mir vielleicht noch einmal anders überlegen.“
„Nein, nein, keine Sorge. Ich werde dir ganz sicher peinliche Verkupplungsversuche ersparen.“
„Also dann. Sag mir Bescheid, wenn es konkreter wird!“
Schließlich machte Hannah sich endgültig auf den Heimweg. Als ihr beim Betreten der Straße der kalte Wind um die Nase wehte, entschloss sie sich spontan zu einem weiteren Besuch bei ihrem Kaffeedealer. Diesmal schlenderte sie jedoch völlig entspannt den Weg entlang und nahm sich auch die Zeit in das ein oder andere Schaufenster zu blicken. Etwa auf halber Strecke sah sie aus dem Augenwinkel wieder die Jungs aus der vermeintlichen Zahnpastawerbung, die ihr bereits am Morgen von der Litfaßsäule zugelächelt hatten. Verwundert über ihre eigene Unfähigkeit nicht schon im Meeting eins und eins zusammengezählt zu haben, stellte sie fest, dass es sich um Twentyfour handelte. Sie blieb stehen und studierte das Plakat genauer. Nach der kurzen Recherche kamen ihr die Jungs bereits seltsam vertraut vor. Missbilligend musterte sie die strahlend weißen Zähne und Petes hervorstechenden, grünen Augen. Das Ganze wirkte unglaublich gestellt und künstlich. Nicht nur die Pose, auch die Zusammenstellung der Gruppe. Da gab es den Dunkelhaarigen, fast schwarz, mit braunen Rehaugen, den Blauäugigen mit etwas längeren braunen Haaren und dann Julias Paul mit wasserblauen Augen und hellblondem Haar. Hannah fühlte sich bei seinem Anblick ein wenig an eine jüngere Ausgabe von Brad Pitt in Joe Black erinnert. Aufmerksam las sie die Zeilen unter dem Bild. Ihnen war zu entnehmen, wann und wo die Auftritte stattfinden sollten. Jetzt ärgerte sie sich ein zweites Mal innerhalb kürzester Zeit über ihre Beschränktheit, weil ihr der Gedanke nicht schon am Nachmittag vor dem Computer gekommen war. Das schrie doch förmlich nach dem optimalen Geschenk für Julia. Am kommenden Samstag sollte ein Auftritt in der alten Fabrik stattfinden. Da würde Hannah, wenn schon nicht die Musik, wenigstens das Ambiente gefallen. Abgesehen davon war ein Abend mit Julia immer ein riesen Spaß und der Besuch würde Hannah sicherlich beim Schreiben des Artikels weiterhelfen.
Erst jetzt spürte sie die Kälte in ihren Knochen aufsteigen und setzte sich erneut in Bewegung. Gleich morgen würde sie in der Mittagspause die Karten fürs Konzert besorgen, in der Hoffnung, dass es erstens, noch Karten gab und zweitens, Julia so kurzfristig Zeit finden würde. Die Aussicht, auf eine wärmende, wohlschmeckende Latte, ließ sie ihren Schritt automatisch wieder beschleunigen.
Obwohl Hannah sich im Vorfeld darüber im Klaren gewesen war, dass sie Joschi um diese Uhrzeit kaum noch antreffen würde, war sie ein wenig enttäuscht, ihre Latte von einer ihr sage und schreibe gänzlich unbekannten Frau überreicht zu bekommen. Ihrem Geschmack würde das jedoch kaum einen Abbruch tun. Mit beiden Händen umschloss sie ihr Getränk, um sich die klammen Finger zu wärmen. Es wurde Zeit, dass sie nach Hause kam. Hannah war müde und kaputt, da würde auch der Kaffee keine Wunder mehr bewirken können.
Endlich vor dem Auto stehend, tastete sie nach ihrem Schlüsselbund. Mit einem Knopfdruck entriegelte sie die Tür, öffnete sie lediglich einen Spalt und quetschte sich auf den Fahrersitz, bemüht dabei mit ihrer Tür nicht die des Nachbarautos zu berühren.
Auf dem Rückweg kam Hannah der Weg nie lang vor. Sie nutzte die Fahrt, um die Gedanken, die nach der Arbeit ausnahmslos um ihre Projekte kreisten, aus ihrem Kopf zu verbannen. Außerdem war der Verkehr glücklicherweise um diese Uhrzeit nicht mehr mit dem am Morgen zu vergleichen. Die meisten saßen wohl schon wieder zu Hause am Abendbrottisch oder lagen bereits gemütlich auf der Couch. Und genau da wollte Hannah jetzt auch hin.
Ein wenig zu schnell kurvte sie die spiralförmige Ausfahrt des Parkhauses hinab. Während ihr als Beifahrerin längst schlecht geworden wäre, konnte es ihr als Fahrerin gar nicht schnell genug gehen. Gerade weil sie die Strecke von ihrer Wohnung bis zur Arbeit und umgekehrt wie im Schlaf kannte, überschritt sie die Höchstgeschwindigkeit gelegentlich deutlich. Häufig passierte ihr das in Verbindung mit dem Hören lauter Musik, wenn ihr Körper scheinbar ohne ihren Verstand fuhr und sie sich nicht mehr an einzelne Fahrabschnitte erinnern konnte. Für eine solche Fahrt existierte sogar ein peinliches Beweisfoto. Peinlich insofern, als dass es von einem feststehenden Blitzer aufgenommen worden war, der an dieser Stelle bereits seit einigen Jahren stand. Außerdem hatte sie den Mund weit aufgerissen und einen schwer leidenden Gesichtsausdruck aufgelegt und sah einfach nur bescheuert aus. Später hatte sie mit dem Foto in der Hand überlegt, welches Lied sie da so emotional mitgerissen hatte. Auf der anderen Seite war sie heilfroh, dass das Foto nichts von ihrem Gesang preisgab. Hannah sang zwar für ihr Leben gern, aber mehr schlecht als recht und deswegen nur unter Ausschluss der Öffentlichkeit. Von daher war das Auto immer ein vermeintlich sicherer Ort gewesen, an dem sie hemmungslos alles geben konnte. Seit der Momentaufnahme, die ihr gnadenlos vor Augen geführt hatte, dass ihr Gesang neben der akustischen, auch noch eine optische Seite hatte, achtete sie tunlichst darauf, zumindest an roten Ampeln, wenn sie einen direkten Nachbarn hatte, ihren Gesang zeitweilig zu unterbrechen. Auch wenn ihr das manchmal schwerfiel.
Auf dieser Fahrt blieb die Musik lediglich auf halber Lautstärke, da einfach auf keinem ihrer eingespeicherten Radiosender etwas Gescheites laufen wollte. Für einen Moment zog sie in Erwägung ihre neue CD, die sie durch ihre Jacke am Körper spürte, aufzulegen. In dem Moment ertönte „One Love“ von U2 und Mary J. Blidge aus den Lautsprechern. Kein Grund das Radio lauter zu stellen, aber Grund genug ihre Neugier nun doch noch zu zügeln und die CD erst auf der heimischen Anlage abzuspielen.
Die Gebäude brausten rechts und links an ihr vorbei. Während der Stadtteil, in dem sich ihre Redaktion befand, mit hochmodernen Bürokomplexen, riesigen Glasfronten und ausgefallenen Metallkonstruktionen glänzte, zeichnete sich das Viertel, in dem sich ihre Wohnung befand, durch nicht weniger imposante Altbauten aus. Den Kontrast zwischen Alt und Neu fand sie äußerst reizvoll.
Nachdem Hannah von der Hauptverkehrsstraße abgebogen war, hielt sie bereits Ausschau nach einem Parkplatz. Mit einer gefundenen Abstellmöglichkeit war sie auch noch im Umkreis von einem Kilometer um ihre Wohnung herum hoch zufrieden, wenn es nicht gerade in Strömen regnete oder sie nach einem Einkauf schwer bepackt nach Hause kam. Der Parkplatz-Gott meinte es heute ein weiteres Mal gut mit ihr und bescherte ihr einen Platz unweit der Wohnung. Geübt schlug sie im richtigen Moment das Lenkrad ein, um rückwärts in die Lücke zu gleiten. Beim Einparken machte ihr keiner so schnell etwas vor. Das Vorurteil, Frauen können nicht einparken, traf auf Hannah definitiv nicht zu. Eine winzige Korrektur und sie stand perfekt.
Die wenigen Meter Fußweg zu ihrer Wohnung führten sie an mit Ornamenten reich verzierten Fassaden vorbei, die der ihres Wohnhauses ähnelten. Kleine, mit kunstvollen schwarzbraunen Metallgeländern gesicherte Balkone überragten an der einen oder anderen Stelle die Fußwege und boten einen gelungenen Kontrast zu den verschiedenen pastellfarbenen Anstrichen. Mit dem Frühjahr komplettierte sich dann regelmäßig das Bild, wenn viele der Bewohner den Aufwand nicht scheuten und ihre Balkone üppig bepflanzten, so dass ein wahres Blütenmeer entstand. Die aktuelle Dekoration fiel dagegen etwas unscheinbarer aus, denn so mancher hatte seine Kiste Bier zum Kühlen nach draußen gestellt. Damit sorgte die Kälte wenigstens beim Einschenken des Bieres innerhalb der vier Wände für eine nicht weniger schöne Blume.
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