„Lass dich doch nicht so leicht von einer fischnetztragenden Tussi ärgern“, riet Julia augenzwinkernd.
Lachend bemerkte Hannah: „Ist sie dir heute also auch schon begegnet, die Herrin der Fische?“, und fügte mit ein bisschen Wehmut in der Stimme hinzu, „Nicht nur dass einem ihr Anblick bei der Arbeit nicht erspart bleibt, an diesem Wochenende musste ich sie auch noch in meiner Freizeit ertragen. Ich hatte immer gedacht, die Funzel sei Wiebkefreie Zone. Sonst treibt sie sich doch nur in so Schickimicki-Kneipen rum. Wie soll ich je wieder dieses hundertprozentige Wohlbefinden in meiner Lieblingskneipe fühlen können?“
„Findest du dich jetzt nicht auch ein bisschen melodramatisch?“, gab Julia kichernd zu bedenken.
„Du hast gut reden und ja auch noch nicht die ganze Geschichte gehört. Natürlich hatte sie schon wieder einen dicken Fisch im Netz. Hab` selten einen so süßen Kerl in der Funzel gesehen.“
„Nun mal halblang, du versinkst ja gleich in deinem Selbstmitleid. Pass lieber auf, sonst muss ich zu deiner Rettung noch Wiebke mit ihrem Netz rufen. Außerdem ist das doch nichts Neues, dass Männer ein bisschen, wie soll ich es ausdrücken, einfacher gestrickt sind?!?“
Wie auf Kommando kam in diesem Moment Benjamin um die Ecke geschossen, legte Hannah seine ihr nur allzu vertraute Hand auf die Schulter und grüßte sie mit den scheinbar hellseherischen Worten: „Na ihr zwei Hübschen! Über wen zerreißt ihr euch gerade das Maul?“
Hannah und Ben, wie er kurz von seinen Freunden genannt wurde, hatten über ein Jahr lang ein äußerst nettes Paar abgegeben. Nur leider hatte Hannah dann festgestellt, dass sein kindlicher Lebensstil nicht ganz altersentsprechend war und mit ihren Zukunftsplänen stark kollidierte. Während sie sich langsam aber sicher an den Gedanken gewöhnen konnte eine feste Bindung mit Trauschein einzugehen und sogar Nachwuchs in die Welt zu setzen, war für ihn existenziell, kein Spiel seines favorisierten Fußballteams zu verpassen und den nächsten Level in seinem jeweils aktuellen Computerspiel zu erreichen. Ja, ein Kind wollte sie, aber keines heiraten. Glücklicherweise ließ sich die Beziehung ohne Rosenkrieg beenden und Hannah und Ben konnten sich auch weiterhin problemlos in die Augen sehen.
Seine aufgeweckten, braunen Augen hatte sie immer besonders schön gefunden, wie sie forsch unter seiner dunklen, vollen Lockenpracht hervorguckten. Manchmal ertappte sie sich noch dabei, wie sie sich tief in seinen Augen verlor und sich nichts sehnlicher wünschte als nur ganz schnell seine weichen Lippen auf den ihren zu spüren. Und das, obwohl die Beziehung bereits ein halbes Jahr zurücklag. Anschließend fühlte sie sich immer ein bisschen erbärmlich.
Bei Hannahs derzeitiger Grundstimmung und dem durch das Gespräch mit Julia entfachten Männerhass, musste er sich jedoch wohl eher weniger vor einer Kussattacke ihrerseits fürchten.
Mit großer Unschuldsmiene antwortete Julia mit einer Gegenfrage: „Hast du mich oder Hannah jemals schlecht über einen anderen Menschen sprechen hören?“, und fügte noch mit einem leicht drohenden Unterton in der Stimme und erhobener Faust hinzu, „Sag die Wahrheit!“.
Ben hob beschwichtigend die Hände und bemerkte solidarisch: „Auf diese Frage möchte ich aus Gründen eines übervollen Schreibtisches zum jetzigen Zeitpunkt lieber keine Antwort geben.“
Unterwürfig schielte er in Julias Gesicht um darin eine Reaktion abzulesen. Als er darin ein selbstzufriedenes, breites Grinsen fand, erweiterte er ihre gemeinsame Inszenierung noch um eine kurze Schlussszene. Im Weggehen wischte er sich hochdramatisch den fiktiven Angstschweiß von der Stirn.
Hannah schaltete sich wieder ein und schlug vor: „Lass uns die Unterhaltung lieber ein anderes Mal ohne Zeugen fortsetzen. Außerdem sollte ich so langsam mal meinen Schreibtisch entrümpeln, um für die nächste Wochenaufgabe Platz zu schaffen.“
„Weißt du schon, was du machen musst?“, hakte Julia interessiert nach.
„Nein! Hab’ absolut keinen Plan. Alle meine Projekte sind abgeschlossen. Werde mich wohl oder übel gleich im Meeting überraschen lassen müssen.“
„Na dann. Drück dir die Daumen, dass du eine spannende Story ergatterst.“
Um dem Gesagten noch Nachdruck zu verleihen, hob Julia beide Hände und drückte mit einem übertrieben angestrengten Gesichtsausdruck die dunkelrot lackierten Finger zu zwei Fäuste. Schon musste Hannah wieder grinsen und machte sich nun endgültig auf den Weg zu ihrem Schreibtisch. Mit leicht geröteten Wangen bahnte sie sich den Weg durch das Großraumbüro, den ein oder anderen fleißigen Arbeitskollegen mit einem leichten Kopfnicken grüßend. Augenblicklich machte sich das schlechte Gewissen in Hannah breit. Sie trug noch ihre dicke Winterjacke, daher wohl auch die gesunde Gesichtsfarbe und hatte noch keinen Handschlag getan. Kaum am Platz, begann sie deswegen auch schon akribisch die hohen Zettelberge zu sichten und wahlweise zu entsorgen oder abzuheften. Ein klein bisschen verstärkte sich die rötliche Gesichtsfarbe noch, als unter all den Bergen eine halb volle Kaffeetasse und ein angebissenes Stück Kuchen zum Vorschein kamen. Schnell und damit möglichst unbemerkt, ließ sie den Teller unter ihrem Tisch verschwinden. Auf halbem Weg zum Papierkorb erstarrte sie in ihrer Bewegung. Ein leichtes Hungergefühl kämpfte gegen die Erkenntnis, dass dieses Stück dem langen Wochenende annähernd schutzlos, lediglich bedeckt von ein paar Notizen, ausgeliefert gewesen war. Die Erkenntnis gewann den Kampf. Mit dem Laut eines aufprallenden Steines traf der Kuchenrest auf den Boden des Papierkorbes.
„Glück gehabt!“, dachte sie erleichtert, „Das hätte mich wohl einen Zahn kosten können.“
Endlich war ihre restlos mit irgendwelchen Telefonnummern und Stichworten bekritzelte Schreibtischunterlage wieder vollständig sichtbar. Während ihre Unterlage auf dem heimischen Schreibtisch noch mit zahlreichen Bildchen übersät war, unterdrückte sie an ihrem Arbeitsplatz das Bedürfnis sich künstlerisch auszutoben bisweilen erfolgreich.
Mit einem guten Gefühl würde Hannah sich nun zum Meeting begeben können, bereit für ihre neue Aufgabe. Als sie nun neben Maike, Kerstin und Wiebke auch Julia und Ben den Konferenzraum ansteuern sah, schwang sie sich auch hoch.
Im Schnitt nahmen etwa 20 der 80 Kollegen aus der Redaktion von Fruitfull an einem Montagmorgenmeeting teil, um z.B. Zwischenergebnisse zu präsentieren und zu diskutieren, Erfolge und Misserfolge zu analysieren oder wie in Hannahs Fall, um neue Aufgaben zu erhalten. Das Magazin erschien im Zweiwochentakt und zielte in erster Linie auf Leserinnen im Alter zwischen 20 und 40 Jahren ab. Damit gehörten natürlich Artikel über die Themen Stars und Sternchen inklusive Gerüchteküche, Modetrends, Kosmetik, Diäten und Lifestyle zum Herzstück einer jeden Ausgabe. Mit einer Auflage von 750.000 Stück, galt es nicht gerade eine kleine Leserschaft zu erreichen und bei der Stange zu halten. Grundsätzlich war der Titel des Magazins Programm: Von Erfolg gekrönt.
Hannah hatte eigentlich schon zu allen Bereichen erfolgreich Artikel verfasst. Ihre Redaktionschefin Anne war stets mit ihrer Arbeit zufrieden gewesen. Bis auf das eine Mal, als Hannah extra in die Staaten, zur New York Fashion Week, geflogen war, um die neusten Trends designerübergreifend und brandheiß den Leserinnen zu präsentieren. Ihr klangen die damaligen Worte Annes noch heute genau in den Ohren, als diese den Vorabentwurf kritisch inspizierte und zu folgendem, vernichtenden Urteil kam: „Wie schafft man es nur, bei all dem Glanz und Glamour, mit hundertprozentiger Zielsicherheit die wohl nichtssagendsten und unscheinbarsten Outfits auszuwählen?“
Um aus dem verpatzen Artikel noch das Bestmögliche rauszuholen, war ihr Julia an die Seite gestellt worden. Obwohl diese ihr gleich richtig vor den Kopf gestoßen hatte, indem sie Anne die Schuld für das missglückte Ergebnis gab, die sich ja Hannah nur einmal etwas genauer hätte angucken müssen um festzustellen, dass sie nicht die Richtige für diese Art von Journalismus war, war damit der Grundstein einer unerschütterlichen Freundschaft gelegt worden. Und genau diese offene, direkte Art war das, was Hannah mittlerweile so an Julia zu schätzen wusste. Außerdem half ihr Julia seither ihren Kleiderschrank ein bisschen aufzupeppen, was ein sehr angenehmer Nebeneffekt war.
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