Verwirrt setzte ich mich wieder an meinen Platz und starrte den PC an. Ich entschloss mich, einige Mails auszudrucken, um sie dann in Ruhe miteinander zu vergleichen.
Ich stellte fest, dass es viele Parallelen gab, denn der Verlust der Hörfähigkeit schien sich wie eine Seuche auszubreiten.
Die Berichte aus den Krisengebieten ähnelten sich insofern, dass sie alle eine hohe Selbstmordrate aufwiesen. Das komische hierbei war, dass auch Soldaten, die eigentlich die Terroristen bekämpfen sollten, sich ebenfalls erschossen.
Seltsamerweise versagten die Autos auch woanders auf der Welt ihren Dienst, die Flugzeuge ließen sich nicht starten und konnten nicht abheben und die Züge fuhren nicht.
In vielen Teilen der Erde war das Stromnetz sehr labil oder war ganz zusammengebrochen.
Besonders in den Krisengebieten herrschte das totale Chaos. Aber auch die großen Industrienationen wie Indien, China und die USA waren davon betroffen. Ich begann, die Berichte zusammenzufassen, als mir einfiel, dass meine Kollegen möglicherweise genau dieselben Meldungen bekamen.
Normalerweise hatte jeder seinen eigenen Bereich, den er zu bearbeiten hatte. Aber bei der auffälligen Ähnlichkeit der Vorkommnisse machte es sicherlich Sinn, die Texte aufeinander abzustimmen. Den gleichen Gedanken schienen die anderen auch zu haben, denn wir schauten fast gleichzeitig hoch.
Ich grinste. Es war schon lustig. Ein eingespieltes Team versteht sich auch ohne Worte. Wir einigten uns darauf, dass zwei an der Zusammenfassung der zugesandten Berichte arbeiteten und die anderen regionale Begebenheiten mit eigenen Erfahrungen wiedergeben sollten.
So erzählte Dennis, einer meiner Kollegen, dass sein Nachbar ihn morgens abgepasst hatte, als er seine Wohnung verließ, um ihn darum zu bitten, sein Hörgerät neu einzustellen. Jener Nachbar, ein älterer Herr, war recht schwerhörig und dachte, als er nichts mehr hören konnte, es läge an seinem Gerät. Dennis versuchte vergeblich ihm klarzumachen, dass es nicht sein Hörgerät war, was versagte.
Man stelle sich einen Dialog zwischen zwei Leuten vor, die sich nicht hören können, wovon der eine aber nicht wusste, dass der andere ihn nicht hören konnte. Wenn man der Zeichensprache nicht mächtig ist, ist dies ein äußerst schwieriges Unterfangen. Es endete dann auch damit, dass der Nachbar erbost und unverstanden wieder seines Weges ging.
Natürlich konnte man das nicht veröffentlichen, aber es lockerte die doch recht seltsame Situation, in der wir uns befanden etwas auf.
Auf einmal grinste Klaus, mein anderer Kollege und meinte, jetzt könnten seine Kinder ja ruhig Krach machen, ohne dass sich die Nachbarn beschwerten.
Ich nickte. In puncto Krach waren meine Nachbarn auch sensibel. Arbeitete ich länger und wollte dann noch meine Wohnung sauber machen, klopfte garantiert der untere Mieter mit dem Besen an die Decke, wenn es nach 22 Uhr war.
Dabei war es gar nicht so einfach, alles das, was Krach machte, bis 22 Uhr zu erledigen. Wenn man nach einem langen Arbeitstag noch etwas eingekauft hatte und dann nach Hause kam, war das Zeitfenster, Lärm in seiner Wohnung zu machen, schnell geschlossen.
Ich hatte recht spezielle „ nette“ Nachbarn. Ein älteres Ehepaar, beide Rentner. Sie war zwar nicht ganz so schlimm, aber er war ein absolutes Ekel.
Er stand morgens auf und marschierte nach dem Frühstück in die Stadt, um alle Verkehrsvergehen der Autofahrer zu notieren und zur Anzeige zu bringen. Gott sei Dank reagierte die Polizei nicht mehr auf seine Flut von Anzeigen.
Was ihn allerdings nicht daran hinderte, trotzdem weiterzumachen. Da im Moment keine Autos fuhren, war Ekel-Alfred- wie ich ihn getauft hatte, da ich immer an die TV Serie „ ein Herz und eine Seele“ dachte, wenn ich ihn sah, jetzt erst einmal arbeitslos. Ein Segen für die Menschheit!
Sie hingegen hatte trotz ihres Alters ein äußerst empfindliches Gehör und Lärm machte sie krank. Als ich daran dachte, musste ich auch grinsen. Jetzt wurde ihre Ruhe durch nichts gestört. Aber wahrscheinlich war ihr die totale Stille auch nicht recht.
Ich widmete mich wieder den unzähligen Mails, um daraus einen Bericht zu verfassen.
Ich war so vertieft in meiner Arbeit, dass ich erschrak, als mich jemand auf die Schulter klopfte.
Ich blickte hoch und sah meinen Chef einen Zettel in die Hand haltend worauf stand:
„Ist der Bericht fertig?“
Ich nickte und deutete ihm an, dass ich ihm den Bericht schon längst zugeschickt hatte. Stirnrunzelnd ging er zurück in sein Büro. Ich grinste in mich hinein. Offensichtlich hatte er seine ganzen Mails auch noch nicht abgearbeitet.
Ich schaute auf meine Uhr. 21 Uhr! Meine Güte, wie schnell die Zeit vergangen war!
Ich bedauerte insgeheim die Arbeiter in der Druckerei, die in der heutigen Nachtschicht sicherlich einen Megastress haben werden.
Ich beschloss, Feierabend zu machen. Meine anderen Kollegen befanden sich auch gerade in Aufbruchstimmung und so verließen wir gemeinsam die Redaktion.
Während der Arbeit hatte ich die Stille ausblenden können, doch als ich jetzt auf der Straße stand, prallte die ungewöhnliche Situation mit aller Macht auf mich ein. Ich schaute meine Arbeitskollegen an. Auch sie schienen dasselbe zu empfinden wie ich.
Bedrückt verabschiedeten wir uns tonlos und jeder machte sich auf dem Nachhauseweg.
Während ich radelte, musste ich die Gehörlosen bewundern, die ihr ganzes Leben in dieser Stille verbringen müssen.
Erst wenn man sich selbst in derselben Lage befand, verstand man, welch eine Herausforderung dies jeden Tag aufs Neue darstellte.
Allerdings konnte ich es mir einfach nicht erklären, warum sich diese Stille so plötzlich auf die Welt gelegt hatte. Warum bestimmte Dinge gar nicht oder nur eingeschränkt funktionierten. Es musste doch dafür einen logischen Grund geben. So etwas passierte doch nicht einfach so!
Aber – es war passiert!
Meine Gedanken kreisten unaufhörlich um diese Frage.
Als ich meine Wohnungstür öffnen wollte, klebte eine Nachricht von Anja daran:
„ Bitte melde dich bei mir, wenn du wieder zuhause bist!“
Meine Laune hob sich schlagartig. Rasch betrat ich meine Wohnung und machte mich frisch.
Im Vorbeigehen aß ich schnell ein fertig gemachtes Brot.
Als ich bei ihr vor der Tür stand, las ich ihre Nachricht:
„Bitte einfach klingeln!“
Ich schüttelte den Kopf und fragte mich, wie sie die denn hören wollte, aber ich folgte brav der Anweisung. Überrascht stellte ich fest, dass sie tatsächlich kurz darauf die Tür öffnete. Lächelnd bat sie mich mit einer einladenden Geste einzutreten. Sie sah es wohl an meinem Gesicht, dass ich sie fragen wollte, wieso sie das klingeln gehört hatte, darum deutete sie auf eine Lampe, die noch blinkte.
„Na, das ist ja mal genial!“, dachte ich.
Man muss sich nur zu helfen wissen.
Sie hatte ihren Laptop an und so begannen wir, darüber zu kommunizieren.
Sie erzählte mir, dass sie in einer Einrichtung für Gehörlose arbeitete. Da jene auf optische Hilfsmittel angewiesen waren, war ihr vor einiger Zeit die Idee gekommen, sich ebenfalls eine Alarmlampe zu kaufen und anzubringen. Diese Idee hatte sich jetzt bezahlt gemacht.
Sie erzählte mir, dass sie, nachdem wir uns getrennt hatten, nach Hause gefahren war. Eigentlich wollte sie verreisen, da sie vierzehn Tage Urlaub hatte. Doch aufgrund der merkwürdigen Vorkommnisse, habe sie sich entschlossen, das Reisebüro aufzusuchen, um ihre Reise zu stornieren, denn sie hatte eine Reiserücktrittsversicherung.
Jedoch hatte sie feststellen müssen, dass es geschlossen hatte.
Sie war erst unschlüssig, was sie machen sollte, aber da sie genug Zeit hatte und nicht den ganzen Tag in ihrer Wohnung hocken wollte, entschloss sie sich zum Flughafen zu radeln, um zu schauen, ob es überhaupt möglich war, die Reise anzutreten.
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