Der Offizier, der die Makarov aus der Koppel gezogen hatte, zielte damit auf ihren Kopf, während der zweite sein Gewehr wieder geschultert hatte und sich tätschelnd um die Hunde kümmerte. Der Finger lag am Abzug und krümmte sich bereits leicht.
„Nicht!“, bremste ihn der Untergebene, kurz aufblickend. „Die ist fertig!“
„ Die ist ein Republikflüchtling. Und möglicherweise eine imperialistische Spionin !“, fauchte der mit der Pistole. Er spuckte verächtlich aus, weiterhin auf sie zielend.
„Es muss trotzdem nicht sein. Verdammt, Otto ! – Scheiß´ auf den Befehl !“, bat ihn der erste, jüngere, und der ältere steckte die Waffe zurück ins Holster, nachdem er sie gesichert hatte. Die beiden verband offenbar eine langjährige Freundschaft, sonst hätte es wohl kaum derartige Widerworte gegeben, denn die Hierarchie war eindeutig. Der Ranghöhere wirkte allerdings nicht sonderlich zufrieden.
Ein Wachtposten war inzwischen von dem Turm herabgestiegen und zu dem Mann mit dem Vollbart geeilt, der im Unterholz lag. Bevor der Soldat ihn erreichte, versuchte der Verletzte vergeblich, seine Pistole zu ertasten, die irgendwohin weggerutscht war. Aber er konnte sie nicht finden. Stattdessen merkte er, dass er in den Beinen jedes Gefühl zu verlieren schien. Er konnte sie schon kaum mehr bewegen. Mindestens eine Kugel musste ihn deutlich schwerer getroffen haben, als er anfangs angenommen hatte. Trotzdem rollte er sich schmerzerfüllt auf den Rücken herum.
Der Grenzsoldat stand bereits direkt neben ihm, selbst die Kalaschnikow in den Händen und diese auf ihn gerichtet. Der Ersatzscheinwerfer des Turms tauchte die Szenerie gemeinsam mit dem Mond in ein diffuses Zwielicht. Der NVA´ler kam zu dem Schluss, dass von dem Vollbärtigen keine besondere Gefahr mehr ausging. Trotzdem blieb er sehr vorsichtig. Schließlich hatte man auf sie geschossen!
„Was ist mit meiner Frau?“, fragte der Liegende mühsam, während ihm die Sinne bereits zu schwinden begannen. Er brachte die Worte kaum richtig heraus. Sein Atem ging schwer und rasselnd, etwas Speichel und Blut liefen auf einer Seite des Mundes heraus und benetzten den Bart. Er musste husten. Der Blick war nach oben in den Himmel gerichtet, der sich eigentlich schützend über seiner Heimat ausbreiten sollte. Er nahm das gegenüber dem Scheinwerfer weichere Hellgelb des Mondes wahr und sah vereinzelte ferne, sehr ferne Sterne. Der Soldat wandte sich mit dem Kopf etwas um, ohne die Richtung des Waffenlaufs zu ändern, und konnte dort, im vollen Licht, erkennen, dass die Frau offenbar lebte und gerade von seinen Kameraden in Gewahrsam genommen wurde.
„Sie ist nicht tot. “, stellte er fest, sich wieder an den Mann auf dem Boden wendend.
„Tun sie ihr nichts. Sie kann nichts dafür!“, flehte er, und hustete erneut leicht.
„Sie lebt . Mehr können Sie nicht erwarten.“, sagte der Soldat ernst. Er sicherte und schulterte sein Gewehr und leuchtete den Mann am Boden dann mit seiner Taschenlampe an. Im starken Licht besaßen dessen Gesichtszüge eine gewisse Härte, die zuvor noch getragene Arbeitermütze war ihm vom Kopf gerutscht und lag neben ihm am Boden, sodass sein volles Haar zur Gänze sichtbar war. Kälte breitete sich im Leib des schwer Verwundeten aus, und dieser vermochte nicht zu erkennen, ob sie vom Kreislauf oder frostigen Boden herrührte, ebenso wenig, wie er das ihn schnell verlassende Blut von unter ihm schmelzendem Schnee unterschied.
„ Das Kind…“ , begann er noch einmal; es klang sehr schwach. Doch in diesem Moment ereilte ihn ein plötzlicher Schmerz, und er verlor sehr schnell das Bewusstsein. Ein Zucken ging durch seinen Leib. Das letzte, was er wahrzunehmen glaubte, war der Nachthimmel über ihm, der sich in seiner Einbildung zunehmend rot färbte.
Ein Stück entfernt hatten die Soldaten der mobilen Streife die Frau hochgezogen und deren Hände mit geketteten Handschellen auf dem Rücken gefesselt. Sie hielten sie leicht gepackt, und die Hunde wachten sorgfältig darüber, dass sie keine Gegenwehr leistete. Doch sie blickte nur stoisch, schmerzgeplagt und entsetzt in die Richtung, in welche sie gemeinsam gingen, wobei sie selbst mehr humpelte. Schon von weitem erkannte sie im Licht ihren Mann, der dort reglos im Schnee am Waldrand lag. Sie begann hemmungslos zu weinen und fiel bald kraftlos auf die Knie.
Otto - derjenige, der sie lieber gleich erschossen hätte - langte nach seinem großen Funkgerät, das am Gürtel saß, um die Zentrale zu informieren, nachdem die Sirene auf dem Wachturm verstummte. Bald würden weitere Soldaten des 7. Grenz-sicherungskommandos ohne Begeisterung aus den warmen Stuben von Schierke hierher hinaus in die Eiseskälte kommen. Ein ganzer Zug war dort stationiert, denn schließlich handelte es sich beim Brocken um militärisches Sperrgebiet.
*
Obwohl es seitens einiger der erfolgreich in den Westen geflüchteten Personen alsbald eindeutige, in einem Fall sogar beeidete Zeugenaussagen bei westlichen Behörden gab und das Kanzleramt eine vorsichtige Anfrage startete, dementierte die DDR-Führung in Berlin zwei Wochen später scharfe Schüsse auf ihre eigenen Bürger an der Grenze am Gründonnerstag. Die neue, auf Verständigung abzielende Ostpolitik des westdeutschen Bundeskanzlers Willy Brandt sollte nicht strapaziert werden, daher beließ man es auch von Bonn her dabei und hakte nicht intensiver nach. In der DDR gab es keinerlei öffentliche Meldungen über das Geschehen. Das Ereignis an der Grenze war, wenn überhaupt, nicht mehr als eine Randnotiz in den Nachrichten der westdeutschen Presse. Im Radio und im Fernsehen gab es gar nichts hierüber zu erfahren. Die Wochen und Monate danach wurden in ihnen beherrscht von der misslungenen Apollo-13-Mission der Amerikaner, dem andauernden Vietnamkrieg, den erneuten Maiunruhen in Frankreich, einem Treffen zwischen dem stellvertretenden DDR-Staatsratsvorsitzenden Willi Stoph und Willy Brandt , ferner dem letzten veröffentlichten Beatles -Album, der Fußball-Bundesliga-Meisterschaft von Borussia Mönchengladbach, von einem großen Erdbeben in Chile und dem Aufkommen der späteren Rote-Armee-Fraktion (RAF) in Westdeutschland unter Ulrike Meinhoff und Andreas Baader („Baader-Meinhoff-Bande“) . Von ähnlichen Zwischenfällen der nächsten Jahre an der Grenze sprach man oft gar nicht offiziell.
1971 wurde Erich Honecker Staatsratsvorsitzender der DDR. Nahostkonflikt, Ölkrisen und Olympische Spiele mit dem Massaker von München folgten… - all dies nahm die Menschen gefangen. Nicht Einzelschicksale an der innerdeutschen Grenze. Aufgrund der sich erweisenden Unzuverlässigkeit der menschlichen Wachtposten an der die Deutschen trennenden Grenze wurden diese in jener Zeit auf der DDR-Seite völlig durch Selbstschussanlagen ersetzt, der Todesstreifen sukzessive verbreitert und durch mehrfache Stacheldrahtrollen, automatisierte Hundelaufanlagen sowie leichte Landminen unpassierbar gemacht.
Es waren ereignisreiche Jahre, und die Zeit schritt zügig weiter voran. Erst am 3. Mai 1974, also mehr als vier Jahre nach dem vertuschten Grenzzwischenfall, bestätigte der Nationale Verteidigungsrat der DDR zumindest inoffiziell den jetzigen und zukünftigen Einsatz von Selbstschussanlagen gegen so bezeichnete Republikflüchtlinge . Vier Tage hiernach trat im Westen Willy Brandt vor dem Hintergrund der Spionage-Affäre Guillaume(3) als Kanzler zurück.
Was weiter aus dem vollbärtigen Mann und seiner schwangeren Frau wurde, die vergeblich versucht hatten, zusammen mit den anderen in den Westen zu gelangen, wurde nie offiziell bekanntgemacht.
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Kapitel 2: Kein schöner Land…
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