„Weiter!“, raunzte dieser ihr leise zu. „ Du schaffst das!“, machte er ihr Mut.
„Nein. Nicht allein!“, entgegnete sie ebenso leise, aber schroff. „Nicht ohne dich!“
„Du musst ! Denk an das Baby!“, verlangte er, doch sie schüttelte energisch den Kopf.
Dickkopf , dachte er. Dies war nicht der Zeitpunkt für lange Debatten! Er richtete das Fernglas erneut auf den Wachturm und erkannte, dass der Wachtposten bisher noch nicht auf sie aufmerksam geworden war. „Die nächsten, los!“, bestimmte er schnell.
Die beiden Frauen mit den Kopftüchern blickten einander kurz an. „Ich nehme den Jungen!“, meinte dann die deutlich ältere von ihnen beiden, ebenfalls leise, aber resolut, zu den zwei verbliebenen Männern, und schnappte sich das schlafende Kind. Es gab keinen Wiederspruch. Sie wirkte kräftig und stark, als habe sie bereits in ihren jungen Jahren bei der Trümmerbeseitigung nach dem Kriege mitgeholfen, und besaß keine Mühe, den eingehüllten Knaben zu tragen. Die Mutter der beiden Kinder hingegen war wesentlich schmächtiger, trotzdem lud sie sich wie lange zuvor besprochen das kleine Mädchen auf. Es blieb noch genug übrig, was ihr ebenfalls noch hier befindlicher eigener Mann würde hinterher tragen müssen. Dann machten sie sich kurz nacheinander auf den Weg. Jene Frau, die den Jungen trug, schien nicht nur stark, sondern auch trainiert und laufschnell zu sein – sie erreichte den Maschendrahtzaun in nur wenig mehr Zeit, als soeben die abtrünnigen Männer benötigt hatten. Letztere waren inzwischen jenseits des Zaunes bereits tiefer im Wald untergetaucht und zwischen den dort wieder dichter werdenden Bäumen im Dunkeln nicht mehr zu erblicken.
Die zweite Frau versuchte der ersten so rasch wie möglich zu folgen, jedoch geschah hierdurch das, was von dem einen oder anderen vielleicht insgeheim befürchtet worden war: Plötzlich stürzte sie aus dem Lauf heraus mitsamt des von ihr getragenen kleinen Mädchen etwa fünf, sechs Meter vor dem Ziel an einer glatten Stelle in einer Furche des Bodens, fiel unkontrolliert der Länge nach in den hier nur dünnen Schnee hin und schrie dabei kurz auf. Das getragene, ummantelte Kind entglitt beim Aufprall ihren reflexartig hochgestreckten Armen und kullerte durch die gemeinsame Vorwärtsbewegung noch einen halben bis einen Meter weiter.
Der Mann mit dem Fernglas hielt den bei ihm noch verbliebenen anderen mit einem schnellen Griff am Arm auf, als dieser, erschrocken, sofort losrennen wollte, um seiner ausgeglittenen Frau und der Tochter zu helfen, denn gerade drehte sich der Wachtposten oben auf dem Turm langsam um. Ein zweiter dort oben, der bisher nicht von unten her wahrgenommen worden war, da er wohl für ein Päuschen hinter den Brettern auf dem Boden gesessen hatte, gesellte sich zu ihm, und es war zu erkennen, dass die beiden sich kurz unterhielten. Die Worte waren freilich nicht zu verstehen. Einer der beiden setzte ein Fernglas an die Augen. Es war ein großes, schweres NVA -Zeiss-Jagdglas mit restlichtverstärkender Optik, die nichts verborgen hielt. Aber er suchte zu weit; der in Augenschein genommene Sektor begann erst knapp hinter jener Stelle, an welcher die benommene Frau und das Kind lagen.
Die beiden verbliebenen Männer und die Schwangere warteten nervös, bis die Soldaten auf dem Wachturm sich nach Sekunden, die sich zur Ewigkeit dehnten, wieder abwandten. Offenbar hatten sie von dort aus etwas bemerkt gehabt, aber nichts wirklich mitbekommen. Der Vollbärtige unten im Versteck ließ den anderen los und nickte ihm kurz zu, damit er sich auf den Weg machen konnte. Dieser nahm zwei schwere Taschen auf und rannte los. Die ältere Frau mit dem Jungen lief bereits jenseits des Zaunes hastig durch den anfangs noch lichteren Wald, als sich die Gestürzte, aufgefordert durch den sie nervös herbei winkenden Fluchthelfer am Zaun, wieder aufrappelte. Die Knie ihrer Hosenbeine waren aufgeschürft, und möglicherweise hatte sie eine Prellung an der Brust davongetragen, da sie ihre kleine Tochter im Fallen nicht losließ, sondern schützend nach vorn und oben hielt, und so ihren eigenen Sturz nicht abfedern konnte.
„Nimm Kathrin!“, flüsterte sie, als ihr Mann sie erreichte. „Ich komme schon klar!“, aber es war ihr deutlich anzusehen, dass sie sich bei dem Sturz verletzt hatte. Nicht sehr, aber doch so, dass sie etwas gehandicapt sein würde. Er warf die Taschen mit Schwung über ein paar Meter hinweg auf den Durchlass im Zaun zu, wo sie von demjenigen dahinter gerade so erreicht und durch das Loch gezogen werden konnten. Dann beugte er sich herab und wollte gerade nach der in einer Furche liegenden Kleinen greifen, als diese erwachte und unmittelbar darauf laut zu weinen begann. Möglicherweise hatte sie sich bei dem Sturz trotz der Ummantelung weh getan, oder gar eine ernstere Verletzung zugefügt. Die Frau war derweil mit etwas Mühe aufgestanden und bewegte sich danach, deutlich humpelnd, so schnell es ihr möglich war, die letzten Meter auf die Öffnung im Maschendraht zu.
„ Maaaammmaaaaa!“, schrie das Kind und streckte ein Ärmchen der Mutter hinterher. Von einer Sekunde zur anderen änderte sich alles. Ein mittlerer Scheinwerfer, auf dem Wachturm entflammt, tauchte den Abschnitt, auf welchem sie sich befanden, in gleißendes Licht, aber es dauerte noch einen Moment, bis die Soldaten dort völlig realisierten, was vor sich ging. An dieser Stelle, wenn auch außerhalb, so doch nahe des militärischen Sperrgebietes des Brockengipfels, rechneten sie nicht wirklich mit einem illegalen Grenzübertritt, und waren dementsprechend überrascht.
In dem Moment hatte die Frau bereits den Zaun erreicht und sich halb hindurch gezwängt. Der Mann mit dem nun schreienden Mädchen auf dem Arm, jetzt fast panisch zurückblinzelnd in der plötzlichen Helligkeit, befand sich direkt hinter ihr.
„Verdammt!“, entfuhr es dem Vollbärtigen in seiner Deckung. Dessen schwangere Frau war nah zu ihm heran getreten und fasste ihn gerade erschrocken an einer Schulter. Sie sahen einander verstehend an. Die Frau war kleiner als der Mann, vielleicht einen Meter siebzig oder weniger, und besaß um ihr glattes Gesicht herum eine energische Ausstrahlung. Sie wirkte kraftvoll, aber nicht bäuerlich, und schien eine gewisse Mühe damit zu haben, die Balance zu halten. Ihre Niederkunft war längst überfällig – ein Wunder, dass sie es überhaupt bis hierher geschafft hatte, ohne dass die Wehen einsetzten.
Oben auf dem Wachturm richtete der eine Soldat den Lichtkegel genau auf die Bewegung am Zaun. Der andere hatte das Sturmgewehr von der Schulter genommen und machte dieses weithin hörbar mit zwei kurzen Handgriffen schussbereit. „Halt! Wer da? – Stehenbleiben!“, schallte es im selben Moment herunter. Ein alter Lautsprecher verstärkte die Aufforderung, sodass sie nicht zu ignorieren war.
„Meinst du, dass sie wirklich gezielt schießen?“, fragte die Schwangere leise, mit einem nun doch ängstlichen Ausdruck im Gesicht. Sie hatte ebenfalls das Waffengeräusch gehört und glaubte nicht mehr, dass ihnen die Flucht überhaupt gelänge. Besser, sie kehrten um!
„Ich will es nicht hoffen!“, meinte der Vollbärtige. Sein Flüstern klang jetzt mehr besorgt, aber nicht ängstlich. „Aber sie haben entsprechende Anweisungen.“
Eine in kurzen, durchdringenden Intervallen hupende Sirene ging plötzlich los, oben auf dem Turm, und ihr kilometerweit hörbares Dröhnen lag sofort in Aller Ohren. Die Frau erschrak, und nochmals, als ihr Mann im Lärm den Reißverschluss der vor ihm liegenden, prall gefüllten Reisetasche aufzog und dieser zwischen den darin befindlichen Kleidungsstücken eine ältere Luger-P08-Pistole entnahm. Er wusste, dass die Waffe keine große Reichweite besaß, aber vielleicht war es ihm möglich, die Wachen damit abzulenken. Wenn er auf dieser Seite des dichteren Waldes in Richtung auf den Wachturm zu lief, würden sie auf ihn aufmerksam, und ihr gelang vielleicht die Flucht. Vielleicht! Wenn sie dann nur hinter ihm her waren, würde er sich zu helfen wissen. Er prüfte die Waffe kurz auf ihren Ladezustand. Acht Schuss, mehr gab es nicht, aber immerhin!
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