„ Gefahren warten nur auf jene, die nicht auf das Leben reagieren."
Im Westen wie im Osten machte man sich Sorgen darüber, was passieren würde, wenn jemand die Lunte an dieses Pulverfass steckte, und suchte verzweifelt nach praktikablen Alternativen zu einem neuerlich gewaltsamen Volksaufstand. Vor dem Hintergrund der spannenden Wendezeit entschieden sich in jenen Tagen die Schicksale zahlreicher Menschen. Das des jungen Henry , der hier in einen Strudel aus Weltpolitik und Spionage gerät, ist eines hiervon.
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November/Dezember 2014:
Ans Krankenbett gefesselt aufgrund seiner beim letzten Auftrag erlittenen schweren Verletzungen (vgl.: „Geheimauftrag für Sax: Die Merkantorius-Protokolle“) , erlebt der BND-Agent Sax Günter Freysing, nun Mitte vierzig, noch einmal diese turbulente Zeit - als sei es erst gestern gewesen, dass er als junger Student Henry in Leipzig vom Geheimdienst des Klassenfeindes angeworben wurde.
Bald wird er in der Gegenwart in neue Aufträge verwickelt sein - nur um am Ende festzustellen, dass sich eigentlich in dieser Welt seit damals nicht wirklich allzu viel verändert hat… doch dieses Wissen ist nicht weniger tödlich!
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Deutschland nach dem 2. Weltkrieg.
© H. Georgy.
(Die dicke schwarze Linie markiert den späteren Grenzverlauf DDR/BRD bis 1990).
(Fußnoten)
Im weiteren Text des Romans zum besseren Verständnis auf Fußnoten verweisende Ziffern im Klammern sind im Ebook aus technischen Gründen auf den letzten Seiten des Buches, vor dem Nachwort des Autors und der Vorschau auf weitere Bände, erklärt.
Kapitel 1: Roter Nachthimmel.
In den Wäldern des Harzes, Innerdeutsche Grenze, südwestlich des Brockens. Ende März, um Ostern 1970. Roter Nachthimmel.
Die Dunkelheit einer weiteren eisig kalten Spätwinternacht hatte sich längst über die Baumkronen des dichten hohen Tanns gelegt, der die deutschen Mittelgebirge bestand. Ein beinahe voller, jedoch im Abnehmen begriffener Mond leuchtete vom frostklaren Himmel her hell über dem Brocken und ließ deutliche Strukturen seiner eigenen Oberfläche erkennen. In den letzten Wochen hatte es noch sehr stark geschneit, daher befanden sich Ansammlungen weißen, unverfälschten pappigem Schnees an den kaltwindigen Hängen der höheren Lagen. Dort, wo sich auch in den Niederungen und Tälern des Harzes die glitzernde Feuchtigkeit hartnäckig am Boden hielt und abgeknickte dürre Bäume vor sich hin moderten, sprießten vereinzelt die verschiedensten Pilze in all ihrer Pracht und gaben sie frühgeschlüpften Insekten Lebensraum. Wenn man die Ohren spitzte, glaubte man gelegentlich den entfernten Ruf eines Waldkauzes zu hören, oder das Rascheln von Klein- und Damwild in Kuhlen mit wärmendem Unterholz.
Der grau in grau wirkende, in Wahrheit aber halb orange, halb weiße und mit einigen farbigen Peace-Zeichen bemalte leere VW Bully , welcher völlig unbeleuchtet auf der westlichen Seite der innerdeutschen Grenze am Rand der den Wald durchziehenden schmalen Behelfsstraße abgestellt war, mochte schon bessere Tage gesehen haben. Er war an den Reifen und Radkästen sehr verdreckt und wies zudem etliche kleinere Roststellen an Kanten und Fugen auf, dort, wo der Lack leicht abgeblättert war.
Ein einzelner Mann stand fast direkt vorn aufrecht daneben und urinierte gerade unablässig in den Straßengraben, als wolle er den Moosen und Gräsern dort durch das gezielte hinweg fräsen des Schnees etwas besonders Gutes tun. Sorgsam darauf bedacht, nicht versehentlich seine neuen hellen Markensportschuhe zu treffen, verlieh er seiner sich anbahnenden Erleichterung durch ein selbstgefälliges Grinsen Ausdruck. Das beinahe jungenhafte, bei näherem Hinsehen aber von der ein oder anderen feinen Alterslinie geprägte Gesicht wirkte ansonsten in Gemeinschaft mit seinen dunklen Augen eher ernst. Bei besserem Licht hätte man seinen Teint als blass beschrieben, so aber täuschten die schattigen Verhältnisse darüber hinweg, dass der Genuss von allzu viel Piece(1) in den Jahren zuvor an seiner Gesundheit gezehrt hatte. Das Haar war lang, hellbraun und leicht lockig; es fiel bis knapp über die Schultern. Dazu trug er einen buschigen Schnauzbart quer über die gesamte Breite der Oberlippe, der an den Enden über beide Mundwinkel bis zum Kinn herablief. Um den Hals herum baumelte ein dünnes viereckiges Lederband mit einem undefinierbaren handgeschnitzten Anhänger am verknoteten unteren Ende, dessen Bedeutung sich höchstens Völkerkundlern erschloss. Seine Statur wirkte eher klein, aber muskulös, mit jener Breite in den Schultern, die auf mehrjährige schwere körperliche Arbeit hindeutete. Die Kleidung, die er zur dicken Wollunterwäsche trug, war US-Import-Ware von der Stange – ein bedrucktes buntes neues Shirt mit einem unter der etwas zurückgehaltenen Jeansjacke hervor lugenden „ Apollo-11“ -Motiv (2) , sowie eine zu dieser passenden Hose, deren Schlitz er nun, nach getanem kleinen Geschäft und pragmatischem Abschütteln seines Lieblings, wieder sorgfältig schloss.
Währenddessen hatte er unverwandt tief in den Wald hinein gestarrt, aber nichts Besonderes darin erkennen können, abgesehen von einem alten kleinen hellen Blechschild an einem schmalen, mannshohen eisernen Hohlpfahl, auf dem schwarze und rote Buchstaben die warnenden Worte HALT! HIER GRENZE! ergaben. Jetzt wandte er sich ab. Er widerstand nach kurzem, begehrlichem Blick der Versuchung, sich aus der angebrochenen Packung der filterlosen Roth-Händle eines Lungentorpedos zu bedienen, welche sich zwischen einem aktuellen landesweiten Autostraßen-Atlas, einer großen dunklen Sonnenbrille und allerlei sonstigem Kram in der Ablage über der Armaturenabdeckung im Inneren des Wagens befand. Der kleinste Lichtschein, wie etwa jener einer aufleuchtenden Zigarettenglut, wäre hier, im Dunkel der Märznacht, kilometerweit zu sehen gewesen. Eben diese Aufmerksamkeit auf sich wollte er um beinahe jeden Preis vermeiden! Eine halb zusammengerollte deutsche Abendzeitung lag auch dabei und kündete von den Gesprächen der Botschafter der Besatzungsmächte, die seit heute in Berlin zusammengekommen waren, um über den zukünftigen Status der Stadt zu verhandeln. Dies hatte die fortgesetzten Artikel betreffend den Vietnam-Krieg beinahe ins Abseits gedrängt, gegen den er und seine Freunde vor ein paar Wochen noch demonstrierten.
Ungeduldig sah er einige Sekunden lang auf seine moderne Seiko-Quarz -Armbanduhr am linken Handgelenk, die er lediglich wegen ihrer grünlich schimmernden Leuchtzeiger über dem Ziffernblatt ablesen konnte. „Shit!“ , zischte er dabei äußerst leise zu sich selbst. „ Wo bleiben die?“.
Er atmete tief durch und lauschte auf weitere Geräusche, doch es war nichts zu hören außer den Klängen der unberührten Natur. Ein leichter Wind kam auf, der nicht stark genug war, etwas mehr als ein kaum wahrnehmbares Rascheln in den schneehaltigen Nadeln der Bäume zu erzeugen. Ihm fröstelte kurz, trotz der Unterbekleidung und der Jacke – im Frühjahr fielen die Temperaturen hier im Harz des Öfteren noch auf deutlich unter den Gefrierpunkt. Daher rieb er sich Arme und Schultern mit den Händen und trat einige Male, deutliche Abdrücke hinterlassend, im weichen Boden fest auf, um sich etwas Aufwärmung zu verschaffen. Sein Atem ging dabei flach, aber ruhig und hinterließ einen zarten hellen Nebel in der Luft. So sehr er sich bemühte, vernahm er nicht einmal die gelegentlich auch zur Nacht unterwegs befindlichen Fahrzeuge auf der nicht allzu fernen Bundesstraße, zu der jene verzweigten Waldwege letztendlich führten, welche das Grenzgebiet markierten.
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