Er ging langsam halb um den großen Wagen herum und blickte angestrengt für jeweils einige Sekunden die hier fast schnurgerade verlaufende Straße herauf und herunter. Kein anderes Auto war weit und breit zu sehen. Glücklicherweise , denn wenn, wäre es womöglich eines mit westdeutschen Grenzschützern gewesen, die sorgsam darauf achteten, dass kein Mensch das sogenannte „Niemandsland“ bis zum Grenzzaun betrat. Die nächste Patrouille war in einer Viertelstunde fällig, wenn seine Informationen stimmten.
Noch zehn Minuten, maximal. Dann wurde es Zeit, wieder zu verschwinden.
*
Tiefer im Wald, auf der anderen Seite einer an dieser Stelle vielleicht fünfzehn bis zwanzig Meter breiten gerodeten und unterpflügten Sperrzone, blickte ein zweiter Mann durch ein kleines, aber leistungsstarkes Doppelfernglas. Er unterschied sich völlig von demjenigen, der auf der Westseite der Grenze auf ihn wartete. Auf ihn , und auf die acht weiteren Menschen beiderlei Geschlechts, die sich hinter und neben ihm tief im niederen Gestrüpp versteckt hielten. Auch zwei kleinere Kinder, ein etwa dreijähriges Mädchen und ein etwas älterer Junge, waren darunter, aber sie schliefen dick verhüllt am Boden bei den Frauen. Die erwachsenen Mitglieder der kleinen Gruppe waren unterschiedlichen Alters, aber keiner von ihnen jünger als fünfundzwanzig oder älter als vierzig Jahre. Die Köpfe der Männer wurden von flachen Arbeitermützen bedeckt. Zwei der Frauen trugen einfarbige dunkle Kopftücher, um ihr helles Haar zu verbergen, welches ansonsten das Mondlicht wiederspiegeln konnte, aber auch gegen die Kälte; eine dritte, hübsch, flachsblond und mit grüner Strickwollmütze, war unverkennbar hochschwanger. Alle Männer hielten sparsames Gepäck in ihren Händen oder hatten es vor sich auf dem Erdboden abgestellt. In den Gesichtern der Erwachsenen paarten sich angespannte Erwartung und Angst, welche sie einander zu verbergen suchten.
Derjenige mit dem Fernglas war um einen Meter neunzig groß, was man ihm jetzt, da er selbst nieder hockte, nicht sofort ansah, wirkte schlank, besaß dunkelblondes Haar und einen beinahe schon voluminösen sich kräuselnden Vollbart. Das ovale Gesicht bekam durch den markanten Bartwuchs eine bemerkenswerte Fülle, ohne ihn dabei älter zu machen, als er es tatsächlich war. Die augenscheinliche Kraft, die in ihm steckte, rührte von früherer sportlicher Betätigung her - ein Blick auf seine weichen Hände hätte ihn sofort als nicht handwerklich tätigen Menschen entlarvt. Seine grauen Augen wirkten ruhig und klar, während er die Lage sondierte. Wie alle anderen, war er in dicke, tarnende Kleidung gehüllt, welche sie warm hielt und ihnen zugleich half, mit der Umgebung zu verschmelzen. Letzteres war auch notwendig, denn das Grenzgebiet wurde von einer nahtlosen Kette nicht allzu weit auseinanderstehender Aussichtstürme her überwacht, auf denen jeweils speziell geschulte Wachtposten der DDR-Grenztruppen ihren Dienst versahen.
Der heimliche Beobachter wusste von einem Insider, der sie zuletzt auch durch den Sperrbezirk bis hierher gelotst hatte, das ein Stück weiter nördlich die Grenze dichter wurde. Dort bauten sie an einem Metalllamellenzaun mit hinterhältigen Selbstschuss-kartuschen, Stacheldrahtrollen und Alarmgebern, sowie sehr hohen, geschlossenen Beton-Wachttürmen, von denen aus man das Gebiet Kilometerweit überblicken konnte. Hier allerdings handelte es sich noch eines jener alten Exemplare aus Holz, die bereits seit den frühen 60er-Jahren errichtet worden waren. Im Augenblick bestand daher noch eine kleine Chance zur Flucht, aber bald würde es kein Entrinnen mehr geben!
Die Grenztruppen hatten seit einiger Zeit, wie er wusste, auch die Anweisung, ohne besondere Vorwarnung auf jedermann gezielt zu schießen, der es wagte, den Abschnitt bis zum Maschendrahtzaun zu betreten, der jenseits der gerohdeten Fläche verlief. Dort, aufgesetzt auf die Oberkante des Zaunes, gab es drei Reihen scharfen, bedrohlich wirkenden Stacheldrahtes. Ein Überklettern kam für die meisten von ihnen nicht in Frage.
Am unteren Ende hinter dem Hindernis, so hatte er jetzt durch seine Gläser erspäht, war gerade eine weitere männliche Gestalt damit beschäftigt, den Zaundraht dicht an einem der ihn mittragenden Betonpfeiler mittels einer kurzen Zange zu zerschneiden – immer nur drei oder vier Wicklungen auf einmal, um dann erst einmal innezuhalten zwecks Feststellung, ob das dadurch verursachte Geräusch auch nicht die Wachen auf dem nächststehenden Turm aufmerksam machte. Bei Nacht trug dieses sehr weit! Schließlich war die Kluft zwischen Zaun und Pfeiler so lang, dass jene Person dort den Maschendraht mit wenig Kraft derart umbiegen konnte, damit ein erwachsener Mensch in ziemlich gebeugter Haltung hindurch gelangen konnte.
Der Mann mit der Zange, der nicht wusste, dass man ihn bereits bemerkt hatte, glitt nun etwas zurück bis zu den ersten Bäumen, die den Rand des von Bewuchs freien Streifens bildeten, steckte das Werkzeug ein und stand in der Deckung der sich dort von Westen her lichtenden Baumreihen auf. Dann formte er die Hände so vor dem Mund, dass er einigermaßen echt den Ruf einer Nachteule nachmachen konnte. Die Menschen im Buschwerk auf der Ostseite hörten den Laut. Zwei oder drei von ihnen, darunter die Schwangere, blickten auf. Der vollbärtige Mann mit dem Fernglas legte dieses kurz vor sich auf einer Reisetasche ab. Dann gab er, weiterhin hockend, das Rufzeichen zurück und flüsterte leise über die Schulter weg in deren Richtung: „Es geht los! Haltet euch bereit.“
Er bemerkte, wie die Menschen sich ein wenig aus ihrer Deckung erhoben und, soweit vorhanden, Gepäck aufnahmen. Ein, zwei alte Halme brachen hörbar, als sie sich bewegten. Eine der Frauen mit Kopftuch versicherte sich, dass die beiden Kinder weiterhin schliefen, und blickte in friedliche süße kleine Gesichter mit sanft geschlossenen Augen. Noch wirkten die verabreichten Schlaftabletten. Er selbst richtete das Fernglas noch einmal ein Stück längs des Grenzstreifens entlang hinauf auf den Wachturm. Der Umriss eines einzelnen Soldaten mit typischem NVA -Helm war auf der Plattform hinter einer hüfthohen Palisade zu erkennen, aber er hatte sich momentan der anderen Richtung zugewandt. Über dessen Schulter hing ein AK-47-Sturmgewehr samt Trommelmagazin, wie der Beobachter problemlos ausmachte. Genug Munition und Feuerkraft, sie alle niederzumachen, falls er sie entdeckte.
„Jetzt!“, flüsterte er dann scharf zu denjenigen, die sich am nächsten zu ihm befanden, und machte mit der rechten Hand eine entsprechende Handbewegung, um sie zur Eile zu treiben. Die Reihenfolge war vorher abgesprochen worden: Seine eigene schwangere Frau und einer der Männer als Helfer zuerst. Dann Pause. Dann dicht nacheinander das Paar mit ihren beiden Kindern. Noch eine Pause. Dann die älteste Frau und der dritte Mann mit dem meisten Gepäck. Zum Schluss er selbst. Doch als es jetzt endlich so weit war, schienen die beiden jüngeren Männer nicht zu halten zu sein, und preschten eigennützig einfach ungestüm drauf los. Einer von ihnen war derjenige, welcher eigentlich die Schwangere hatte unterstützen sollen. Der Vollbärtige vermochte nicht, die beiden zurück zu halten, sondern schüttelte nur den Kopf, dabei zornig, aber leise, so etwas wie „verdammte Schweine!“ zischend. Im Moment konnte er nichts tun, aber später einmal würde er sich die beiden gern zur Brust nehmen wollen. Im Augenblick gab es Wichtigeres!
Die beiden Männer huschten mit ihren eigenen Taschen leicht geduckt und wieselflink geradlinig über den holprigen schneehellen Grenzstreifen und erreichten nach wenigen Sekunden das frische Loch im Zaun, wo sie von dem Fluchthelfer erwartet wurden. Er hielt jetzt den Draht von seiner Seite her beiseite geklappt, sodass sie mühelos erst die Taschen durchreichen und dann nacheinander selbst hindurch schlüpfen konnten. Die Schwangere hingegen war überrascht und unschlüssig zugleich etwas nach Luft japsend in beinahe aufrechter Haltung stehen geblieben und blickte sprachlos ihren weiterhin hockenden Ehemann an.
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