Er erhob sich etwas und nahm die Schwangere intensiv in die Arme, blieb aber vorsichtig, um nicht ihren gewölbten Bauch zu drücken. Dann sagte er ihr mit schnellen Worten direkt ins Ohr, damit sie es trotz der Alarmsirene verstand: „Ich renne auf den Wachturm zu. Wenn sie die Richtung des Scheinwerfers ändern, um mich zu erfassen, gehst du los. - Gott sei mit dir !“. Er gab ihr einen kurzen Kuss.
„Aber…“, wollte sie einwenden, und nahm dabei etwas Abstand.
„Keine Wiederrede! Du musst ´rüber! Denk´ auch an den Film !“, sagte er energisch. Sie wusste, was er meinte: Den kleinen Minox film, den sie mit Leukoplast-Streifen unter der Kleidung an den Leib geklebt trug, und der wichtige Informationen enthielt! Informationen, die unbedingt die Organisation erreichen mussten, für welche sie und ihr Mann in den letzten sieben Jahren gearbeitet hatten. Hier, im Osten , heimlich. Doch das war jetzt vorbei, denn offenbar waren sie aufgeflogen, und hatten beinahe halsüberkopf die Flucht antreten müssen. Es blieb nunmehr keine Zeit für lange Abschiedsworte. Die Zeit arbeitete gegen sie.
Der jungen Frau am Zaun war es inzwischen gelungen, ganz hindurch zu schlüpfen und von ihrem Mann das Mädchen entgegenzunehmen. Dieser wartete ungeduldig, um ihr zu folgen, verhedderte sich dann aber etwas im Draht, weil der Fluchthelfer sich um die Frau und das Kind kümmerte, anstelle den Durchschlupf offen zu halten.
„Du gehst ´rüber ! Ich komme nach, sobald ich kann!“, sagte derweil der dies besorgt beobachtende Vollbärtige in der Deckung und spurtete los, dicht bei den Bäumen und fast jenseits des Lichtkegels, der weiterhin noch zentral auf die Stelle gerichtet war, an welcher jetzt der andere Mann ein wenig festsaß. Die Pistole steckte dabei gesichert hinten im Hosengürtel.
Der Soldat mit der Maschinenpistole gab zwei einzelne Schüsse ins Licht ab, ohne jedoch genau auf jemanden zu zielen. Die Kugeln gingen an den Flüchtenden und am Zaun vorbei in den weichen Boden. Schnee, Erde und Gestein spritzten auf. Das spornte den Mann im Zaun an, der beim ersten scharfen Knall zusammengezuckt war, und es gelang ihm, ebenfalls ganz hindurch zu gelangen. Von dort aus blickte er zurück und konnte sehen, dass die Schwangere besonnen noch abwartete. Es war viel zu gefährlich für diese, durch das Licht zu gehen, denn die Soldaten auf dem Wachturm hätten sie dann voll im Visier… Und sie konnte keinesfalls rennen oder auch nur schnell laufen, wie die anderen vorher!
Ein wenig ratlos, was er jetzt tun solle, blickte er den Fluchthelfer an. Dieser sah beinahe genauso aus wie der Mann am VW und schien dessen Zwillingsbruder zu sein. Seine Haare waren jedoch kürzer gehalten und er besaß keinen Schnauzbart, das Gesicht hatte er unter Zuhilfenahme von Ruß geschwärzt. Im vollen Licht des Scheinwerfers nützte das freilich gar nichts, und Angst stand in seinen Augen. Anstelle des Jeans-Outfits trug er zu Stiefeln eine olivgrüne Bundeswehr hose und einen entsprechenden Parka mit hochgezogener Kapuze. Auf beide waren mit Filzschreiber an diversen Stellen verblassende Friedenssymbole aufgemalt.
„Wir können nicht warten. Die wissen das!“, sagte der Fluchthelfer schnell mit einer Kopfbewegung in Richtung auf die andere Seite.
„Bringen Sie meine Frau und unsere Tochter zum Wagen. Ich warte noch! Geben sie uns zwei Minuten. Ich bitte Sie!“
„Zwei Minuten!“, wurde ihm nach kurzem Zögern zurückgenickt. Der Fluchthelfer verschwand mit der Frau und dem kleinen Mädchen, dass er nun selber trug, im Wald. Die Frau stolperte beinahe erneut und hinkte hinterher, fortan bemüht, nicht im hier spärlichen, aber schneebedeckten Bodenbewuchs hängen zu bleiben, während der Mann vor ihr trotz der Last bewusst geübte hohe Schritte machte. Kurz darauf erreichte er den VW Bully . Jene beiden Männer, die verfrüht gestartet waren und die Frau mit dem Jungen saßen bereits an verschiedenen Stellen darin. Der Fahrer hingegen stand aufgeregt neben der aufgezogenen Schiebetür, gestikulierte wild und brüllte seinen Bruder sichtlich erregt an. Der Alarm war dabei auch hier deutlich zu hören.
„Was ist los, verdammt ? Ich habe Schüsse gehört! Wo bleiben die übrigen?“
Der angesprochene machte eine Kopfbewegung hinter sich, während die Frau ebenfalls am Wagen ankam, an beiden vorbei humpelte, bereits einstieg und er ihr das Kind hinterher reichte. Leicht außer Atem vom schnellen Lauf durch die hier in Grenznähe lichteren Baumreihen versuchte er, zu beruhigen: „Kommen gleich!“
Der eine Wachtposten auf dem Turm bewegte jetzt, enzwiegespalten, den Scheinwerfer etwas nach unten und zur Seite, sodass der Lichtkegel daraus beinahe mittig den rennenden Mann erfasste, der mit großen, eiligen Schritten direkt am Waldrand auf sie zukam und vorher lediglich schattenhaft wahrnehmbar gewesen war. Der zweite legte mit seinem Sturmgewehr an und ließ sogleich einen kurzen Feuerstoß daraus folgen. Die wenigen Kugeln hinterließen eine gerade Linie im Acker, bis sie den Bärtigen beinahe erreichten, aber dieser war geistesgegenwärtig genug, um im letzten Moment seitlich ins Unterholz abzutauchen.
„Halt! Stehenbleiben! Es wird scharf geschossen!“, vernahm er sogleich eine sehr laute drohende Stimme mit deutlich ostdeutschem Akzent vom Turm aus herunter. Er rappelte sich etwas auf und blickte zurück in die Richtung, in der seine schwangere Frau darauf wartete, losgehen zu können. Das Licht aus dem Scheinwerfer reichte jetzt nicht mehr bis zu ihr, er konnte sie unter dem Mond kaum ausmachen und glaubte daher lediglich, ihre Umrisse tatsächlich zu sehen. Ebenfalls aus dieser Richtung, aber noch weiter entfernt, war allerdings in den kurzen Unterbrechungsintervallen der monotonen Sirene sich schnell näherndes Hundegebell zu hören. Eine mobile Grenzstreife!
Seine Frau hatte offenbar erkannt, dass dies ihre letzte Chance war. Sie ging, sorgsam ihr Gleichgewicht haltend, aber wackelig, allein vorsichtig über den gepflügten Boden, dabei bemüht, in den eisigen Furchen nicht zu stolpern, wie die andere Frau mit dem Mädchen vor ihr. Wie ihre Vorgänger, hinterließ sie Fußspuren im Schnee dort, wo er etwas lockerer war. Hoffnungsvoll beobachtete der Vollbärtige daher, dass sie bereits die Hälfte der Strecke überwunden hatte, als der Soldat oben auf dem Turm zu seinem Entsetzen den Lichtkegel wieder in diese Richtung lenkte.
Auch der Familienvater, der nun noch jenseits des Zaunes wartete, wurde am Rande erneut mit erfasst, und blickte abermals aufgeschreckt in Richtung des Turmes.
Schnell zog der Bärtige die Pistole aus dem Gürtel, entsicherte sie, und lud sie durch. Es schien ein oft geübter, flüssiger Handgriff, und auf das Geräusch kam es jetzt nicht mehr an. Sorgfältig zielte er in die Richtung, aus der das Licht kam, und drückte dann langsam ab. Einmal. Zweimal. Dreimal. Die Abstände waren kurz, aber nicht übereilig. Mit dem ersten Schuss erschraken die Soldaten, beim zweiten hatte derjenige mit der AK-47 im Anschlag das Mündungsfeuer ausgemacht. Der dritte ließ tatsächlich das Glas des Scheinwerfers zerspringen und dessen Licht im kurzen Funkenregen verlöschen. Er war ein ausgezeichneter Schütze, aber er wollte niemanden verletzen, so prekär die Situation auch war.
Der Soldat, der den Scheinwerfer bedient hatte, ging in Deckung, während der andere den Schützen ein Stück entfernt unter ihm jetzt, weit weniger zurückhaltend, unter Dauerfeuer nahm. Die Salve kam trotz der abrupten Dunkelheit ziemlich genau, und dieser musste hastig beiseite springen, um nicht getroffen zu werden. Baumstämme, Äste und Schnee wurden getroffen, die Kugeln pfiffen dicht vorbei. Eine zweite Salve lag allerdings schon wieder deutlich weiter daneben.
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