Von hinten näherte sich schnell die Streife, deren beide Hunde nun vermehrt bellten. Etwas wurde dort gerufen, ging aber in der Lautstärke der Schüsse und der Sirene unter. Licht aus zwei starken, batteriebetriebenen Feldhandlampen schien ihnen voraus. Die Schwangere beeilte sich jetzt doch ein wenig mehr, und der Flüchtige hinter dem Zaun machte ihr im Mondlicht nervöse Zeichen, nicht aufzugeben, aber gleichwohl vorsichtig zu sein.
Doch dann ließ die mobile Streife die beiden trainiert-bissigen Schäferhunde los. Diese wetzten wie von einer Tarantel gestochen weitläufig in jene Richtung, in der die Frau lediglich noch drei, vier Meter bis zum Zaun zurückzulegen hatte. Der Vollbärtige wandte sich in seiner Deckung um und versuchte, den Leithund anzuvisieren, doch die beiden sorgsam dorthin abgefeuerten Kugeln gingen an diesem knapp vorbei, da er die wechselnde Geschwindigkeit der Tiere auf dem zerfurchten und hier und dort glatten Boden nicht richtig einkalkulieren konnte. Die zähnefletschenden Vierbeiner stoben zu seinem Entsetzen unvermindert weiter vorwärts, dabei die auf sie abgegebenen Schüsse ignorierend, und erreichten seine Frau, gerade bevor sie am Zaun anlangte. Der Leithund sprang sie aus vollem Lauf heraus an und riss sie zu Boden, während der Mann dahinter ihr vergeblich einen Arm entgegenstreckte.
Der Vollbärtige konnte nun nicht mehr schießen – zu groß wäre die Gefahr gewesen, anstelle der Hunde seine eigene Frau zu treffen. Diese war niedergestürzt und wurde nun von beiden Tieren mit heftigen Bissen attackiert.
Seine Schüsse indes hatten den Posten auf dem Wachturm genau gezeigt, wo er sich befand, und eine weitere Salve wurde von dort aus auf ihn im Dunkeln abgegeben. Erneut versuchte er, im Unterholz Deckung zu finden, aber als er sich gerade in einer Richtung niederwerfen wollte, spürte er einen scharfen Schmerz im Rücken, unten, Mitte, fast direkt neben der Wirbelsäule. Ein zweiter Einschlag erwischte ihn höher, an der Schulter, als er bereits kurz aufschrie und stürzte. Die Pistole entglitt seinen Händen und verschwand in der Dunkelheit. Der Soldat oben hatte einfach weitergefeuert und schließlich mehr oder weniger zufällig getroffen. Einen Moment später flammte auf dem Wachturm ein kleinerer Ersatzscheinwerfer auf, und beleuchtete von neuem die Szenerie.
Während der Mann, zweimal von hinten getroffen, bäuchlings am Waldesrand im Unterholz lag und gerade keiner Bewegung fähig war, rang seine Frau verzweifelt mit den beiden Hunden, die sich in ihre Gliedmaßen verbissen hatten: Der eine in ihren rechten Unterarm, der andere in den linken Unterschenkel. Sie zappelte und schrie, während sie versuchte, wenigstens das Vieh an ihrem Arm loszuwerden.
Derjenige hinter dem Zaun war versucht, ihr zu helfen, doch dann sah er die beiden Soldaten der Fußstreife herannahen. Einer von ihnen hatte bereits sein bislang geschultertes Gewehr heruntergenommen und war stehengeblieben, um sauber zielen zu können. Der andere kam, die Lampe in der einen und seine Dienstpistole, eine alte Makarov, in der anderen Hand, schnell auf ihn zu. Er trug eine Schirmmütze, was auf einen höheren Dienstgrad hinwies. An einer Stelle glitt er etwas zur Seite aus, konnte sich aber noch fangen. Die plötzliche Bewegung hinderte seinen Untergebenen hinter ihm jedoch einen Moment, abzudrücken.
Der Familienvater sah es und überlegte nur kurz: Sie alle befanden sich eindeutig noch auf ostdeutschem Gebiet - auch wenn der Zaun hier stand, lag die tatsächliche Grenze doch ungefähr zweihundert Meter weiter westlich im Wald: Dort, wo die Schilder aufgestellt waren. Womöglich würde man keine Hemmungen haben, auch jenseits des Zaunes auf ihn zu schießen.
Die Schwangere blickte ihn tränenflehend an, aber er konnte nichts tun. Wenn er hier blieb, würde man nicht nur sie, sondern auch ihn festnehmen und für eine lange Zeit einsperren. Seine Frau! Seine Kinder! Aus der Traum vom Westen…
Er malte sich die drohenden Verhöre und das Gefängnis aus. Mit einem Ausdruck des Bedauerns ließ er den bislang aufgehaltenen Zaun los, drehte sich traurig um und verschwand im Wald. Das Gepäck blieb in der Eile zurück. Zwei einzelne weitere Schüsse fielen, was ihn dazu veranlasste, noch schneller zu laufen und sich nicht einmal mehr umzudrehen. Die Kugeln verfehlten ihn, sofern sie überhaupt gezielt abgegeben worden waren, und landeten in den Bäumen und in niederen Ästen. Als er die Landstraße erreichte, saßen alle anderen im VW Bully, die beiden feige überstürzt gestarteten jungen Männer hinten in der letzten Reihe. Der Wagen wäre gerade eben groß genug für alle, die mitfahren sollten, wenn man die Kinder und einen Teil des Gepäcks auf den Schoß nahm. Die Seitentür stand weiterhin offen, aber der Fahrer war inzwischen eingestiegen, hatte den Motor angelassen und die Scheinwerfer eingeschaltet. Er spielte nervös am Gas, sodass der Motor bereits im Leerlauf hochtourig runddrehte. Dessen Bruder war damit beschäftigt, von innen her die Schiebetür zu schließen. Offenbar war man im Begriff, abzufahren, notfalls auch ohne ihn - obwohl seine Frau genau das lautstark und handgreiflich zu verhindern versuchte, während sie in dem einen Arm ihre kleine Tochter hielt.
„Halt!“, rief er ihnen laut zu, und er Fahrer stoppte den bereits anrollenden Wagen noch einmal ab, damit er zusteigen konnte. Der Beifahrersitz des Bullys war für die Schwangere freigehalten gewesen und wirkte jetzt über alle Maßen leer.
„ Mann , nun mach voran! - Wo sind die Ruth und der Carl-Heinz geblieben?“, herrschte der schnauzbärtige Fahrer ihn über den Innenspiegel hinweg an, aber am Gesichtsausdruck des Angesprochenen konnte er dessen Antwort bereits ablesen, bevor dieser sie gab.
„Die haben es nicht geschafft!“, kam sie mit sehr zittriger, schneller Stimme. Kaum dass er ebenfalls im Wagen saß, half er selbst mit, die Schiebetür zu schließen, und es kam ihm dabei vor, als beteilige er sich an einem gemeinen Verrat. Wie um davon abzulenken, sah er mit grimmigem Gesichtsausdruck jene beiden Männer hinten an, die als erste losgelaufen waren, ohne Rücksicht auf die übrigen. Die zwei wandten die Augen betreten nach unten und blickten nicht zurück. Vielleicht war es wirklich so etwas wie einsetzende Reue, aber diese kam nun zu spät. Sie alle besaßen eine recht lebhafte Phantasie davon, was es bedeutete, einen Fluchtversuch zu unternehmen, dabei aber gefasst zu werden.
Die schmächtige Frau nahm ihren Mann jetzt liebevoll in den Arm. Das Mädchen hatte aufgehört zu schreien und weinte angesichts beider Elternteile nur noch leise aufgeregt vor sich hin. Auch der Junge war nun erwacht, rieb sich verstört die Augen und sah sich schüchtern um. Die zweite, etwas stämmigere und ältere Frau, die ihn hergetragen hatte, wirkte nur mäßig erleichtert. Sie hatten es geschafft, ja, aber nicht alle!
Deprimierte Stimmung breitete sich unter den Insassen aus, die später nur langsam dem Gefühl der Erleichterung wich, selbst die Grenze erfolgreich überwunden zu haben. Der Fahrer schaltete hörbar in einen höheren Gang, beschleunigte den Wagen so schnell es ging auf eine ansehnliche Geschwindigkeit, die deutlich über dem lag, was auf der glatten, schmalen Straße im Wald ratsam war, und binnen weniger als einer Minute wurden die Rücklichter des VW Bully immer kleiner und kleiner, bis sie in einer Kurve endgültig verschwanden. Vom westdeutschen BGS war weiterhin nichts zu sehen.
*
Am Grenzzaun hatte sich bereits die Fußstreife schnell laufend bei ihren Hunden eingefunden, welche einer jetzt am Halsband zurücknahm und mit knappen Befehlen beruhigte. Es folgten noch ein paar lautstarke Beller, wütendes Zähne fletschen und Knurren der Tiere gegenüber ihrem Opfer, dann waren sie beinahe ruhig. Die Frau wand sich wimmernd am Boden. In Arm und Bein waren durch die dort zerfetzte Kleidung hindurch deutlich blutende, tiefe Bissverletzungen zu erkennen, aber trotz starker Schmerzen hielt sie die Hände vor ihrem schwangeren Bauch überkreuzt, unterbewusst, phlegmatisch, wie um das Ungeborene darin zu schützen.
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