Leipzig. Deutsche Demokratische Republik. Anfang Dezember 1988. Kein schöner Land…
Die Jahre waren, so schien es, im Eiltempo durch die beiden deutschen Staaten gerast. Hüben wie drüben wurde das Schicksal der Teilung der Nation von den meisten Deutschen inzwischen hingenommen. Die Welt drehte sich weiter, auch die Rüstungsspirale der Supermächte - und zu Beginn der achtziger Jahre, als der Nato-Doppelbeschluss die Menschen beunruhigte, neue politische Strömungen für den Frieden hervorbrachte und Regierungen veränderte, drohte die Welt zugleich ein einziges immer schnelllebiger werdendes Tollhaus zu werden.
Im Westen waren die Sozialdemokraten in der Staatsführung abgelöst – es gab nunmehr dort Kanzler Helmut Die Birne Kohl und eine christlich-liberale Bundesregierung, Privatfernsehsender, Homecomputer, C-Netz-Mobiltelefone und lange Schlangen an den Kaufhauskassen, weil jeder ein Mountainbike haben wollte. Im Osten gab es weiterhin den Staatsratsvorsitzenden Erich Honecker und seine Spießgesellen , Schmuddel- Ede im Schwarzen Kanal , Schwarzbier, Broiler, grüne Ampelpfeile, Spreewaldgurken und lange Schlangen vor den Läden, falls es ausnahmsweise mal wieder Bananen geben sollte. Und ersten offenen Unmut sowie Protest gegen die Zustände. Und Witze. Ein viel zitierter aus jener Zeit, der einem bei lautem Erzählen durchaus längere Haft einbringen konnte, lautete: „Die USA, die Sowjetunion und die DDR wollen gemeinsam die Titanic heben. Warum? Die USA interessieren sich für den Goldschatz und den Tresor mit den Brillanten. Die Sowjetunion interessiert sich für das technische Know-how. Und die DDR interessiert sich für die Musiker, die beim Untergang fröhliche Lieder gespielt haben.“
Vom letzten Drittel des Jahrzehnts an begannen sich Glasnost und Perestroika von Gorbatschow sukzessive in den Ländern hinter dem Eisernen Vorhang auszuwirken, und selbst in der DDR glomm ein kleines, helles Licht in dunkler Nacht. Was genau für Veränderungen auf die Gesellschaft zukamen, und wie rasant diese dann schließlich am Ende von statten gingen, war indes noch nicht abzusehen.
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„ Kein schöner Land in dieser Zeitals hier das uns´re weit und breitwo wir uns findenwohl unter Lindenzur Abendszeit…“
Aus dem hell erleuchteten hinteren Saal des alteingesessenen, mittlerweile aber mehr studentischen Lokals mit dem Namen Ellis Eck ganz in der Nähe des Georgi-Dimitroff -Platzes (4) klangen unverkennbar nacheinander die vier Strophen des Liedes Kein schöner Land in dieser Zeit . Der alte, Fröhlichkeit und Lebenslust intonierende melodische Text von Anton Wilhelm Florentin von Zuccalmaglio schien es dem wenige Stimmen zählenden Chor beiderlei Geschlechts sehr angetan zu haben. Zwar mochten die einen oder anderen Töne nicht gänzlich rein herüberkommen, doch war unverkennbar, dass es sich nicht um völlige Laien handelte, die hier aus vollem Halse sangen. Für die derart Begeisterten war der Gesang allerdings eher satirischer Ausdruck dessen, dass sie mit den Zuständen in ihrem schönen Land längst nicht mehr zufrieden waren. Vielleicht wollten sie aber auch trotzig ihre eigene Lebensfreude zum Ausdruck bringen – gestern hatte es ein schweres Zugunglück bei Görlitz mit acht Toten gegeben, einer davon wohl ein sehr entfernter Verwandter der hier Anwesenden, aber selbiges war wie alle solche Dinge nur kurz am Rande von Angelika Unterlauf in den 20-Uhr-Nachrichten der Aktuellen Kamera erwähnt worden.
Der angebliche Sangeskreis, zu dem sie sich trafen, bildete in Wahrheit allerdings lediglich den oberflächlich-naiven Deckmantel ihrer politischen Zusammenkünfte, für welche sich ansonsten bestimmt auch die allseits gefürchtete Staatssicherheit interessiert hätte. Es war indes nicht ihr erstes Treffen. Seit dem frühen Sommer fanden diese an den einen oder anderen Sonntagabenden statt, zu Anfang nur mit fünf, dann mit ein paar mehr Beteiligten. Inzwischen waren sie auf etwa ein Dutzend angewachsen und bei den einzelnen Treffen dann jeweils bis auf ein oder zwei von ihnen mehr oder weniger tatsächlich alle anwesend. Von wesentlich größerem Interesse für die Beteiligten waren somit heute auch die Berichte von der Tagung des Zentralkomitees gewesen, auf welcher Erich Honecker seine Ablehnung gegenüber der sowjetischen Reformpolitik deutlich zum Ausdruck brachte. Sie alle hier erwarteten eigentlich die Liberalisierung der bislang restriktiven Reisemöglichkeiten, nachdem Ungarn bereits seit Jahresbeginn seinen eigenen Bürgern die visafreie Ausreise erlaubte. Aber nach den klaren Worten des unbeugsamen Staatsratsvorsitzenden glaubten sie nicht mehr daran, dass eine für Monatsmitte groß angekündigte neue Verordnung an den bisherigen Praktiken der DDR etwas ändern und wesentliche Freiheiten bringen würde. Keine freien Reisen in den Westen…
In Berlin hatte es während der zurückliegenden Sommermonate gewalttätige Ausein-andersetzungen zwischen Jugendlichen und der Polizei gegeben. Während des Kalten Krieges der Bands(5) schlugen sich vom Osten aus einem Michael-Jackson-Konzert vor dem Reichstagsgebäude Zuhörende mit Vopos und Bereitschaftspolizei. Die Straßenkämpfe fanden im Staatsfernsehen überhaupt keine Erwähnung und wurden im Radio heruntergespielt, die große Allgemeinheit erfuhr lediglich aus dem Westfernsehen oder aus Berichten von Verwandten in der Hauptstadt davon. Es war dieses nur eines der vielen Signale, die auf baldige größere Unruhen im Lande hindeuteten. Gewaltsame Unruhen! Die Menschen wollten sich das Jahrzehntelange Eingesperrt sein einfach nicht mehr gefallen lassen.
Brot und Spiele in Südkorea mit namhaften DDR-Größen und gefeierten Medaillengewinnern wie der Schwimmerin Kristin Otto , die allein sechsmal Gold holte, hatten zum Herbstanfang für eine kurze Weile von den politischen Geschehnissen abgelenkt, doch nun standen die Zeichen ganz offenbar wieder auf Sturm.
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Die etwas dralle, aber freundlich wirkende Wirtin im vorderen Teil des Lokals hörte Gläser spülend dem kräftig gesungenen Lied eine Weile amüsiert zu, das halblaut an ihre Ohren klang, doch dann wurde ihr Gesichtsausdruck sehr ernst. Falls die Stasi herausfand, dass sie in ihrem Hinterzimmer volksfeindlichen Aktivisten regelmäßige Zusammenkünfte erlaubte, wäre es um Sie und um ihr Lokal geschehen. Mit ihren rund fünfzig Jahren gäbe es kaum mehr eine Alternative zu ihrem HO-freien kleinen Laden. Und überall konnten Spitzel lauern! Zwar mochte sie diese jungen Leute, aber sie war neben allem anderen die gesamte Woche über bis tief in die Nacht hinein auf den Beinen gewesen, und die Sperrstunde auch seit mehr als vierzig Minuten vorüber.
Die letzten Gäste aus dem Schankraum waren längst gegangen, nur der alte Densing, ein rund siebzigjähriger Kriegsversehrter mit nur einem Arm , schlief, auf einem der wackeligen Holzstühle sitzend, mit Kopf und Oberkörper auf dem robusten Eichentisch. Ein leeres Schnapsglas und ein fast leeres großes Bierglas standen dort neben ihm auf einem Brauerei-Ulrich -Deckel mit zahlreichen Strichen und Kreuzen. Sie ließ ihn schlafen und ging mit kurzen Schritten hinüber zur dicken Doppelglastür mit den grobkörnigen Scheiben, die den Saal vom übrigen Wirtshaus trennte. Kaum war die letzte Strophe des Liedes verklungen, zog sie die Tür auf.
„Ja´ nu , Schluß für Heute!“, rief sie unbestimmt in sächsischem Tonfall hinein, und klatschte dabei kurz drei bis viermal in ihre großen, fleischigen Hände. Elf Personen befanden sich diesmal dort, fünf junge Frauen und sechs ebenso junge Männer, jeweils etwa um die neunzehn, zwanzig Jahre alt, zwei schon etwas älter, welche allesamt legere Freizeitkleidung der späteren achtziger Jahre trugen, dazu mehr oder weniger modischen Haarschnitt in verschiedenen Formen. Es war ein recht buntgemischter Haufen Studierender verschiedener Sektionen der nahen Karl-Marx -Universität, welche seit einigen Jahren nun bereits den Großteil ihrer Gäste bildete. Ansonsten gab es bei ihr nur wenig Stammpublikum, ältere Leute waren eher die Ausnahme und dann zumeist werktägliche Würfelspiel-Stammtischler, die nach der Arbeit kamen und auch nicht allzu lange blieben, weil ihre Frauen warteten.
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