„Ja… uns! “, erwiderte sie ihm, zart hauchend. Dann fielen sie leidenschaftlich übereinander her, dabei verspielt und unbeschwert, wie es nur die Jugend vermag. Als die Hauswirtin in der Nacht durch eindeutige Geräusche aus der Studentenbude über ihr in ihrem leichten Schlaf kurz gestört wurde, dachte sie wohl bei sich, dass sie doch einmal ernsthaft mit dem jungen Mann würde reden müssen, aber sie lächelte dabei…
*
Das etwa vierzehn Meter breite und sieben Meter hohe Bronzerelief Aufbruch , im Volksmund auch einfach als Marx-Relief bezeichnet, drohte sinnbildlich die sich darunter befindliche Schar an jungen Studenten und Studentinnen zu erschlagen, die gerade durch den Eingang in das langgestreckte mehrstöckige Universitätsgebäude strömten. Viele Tonnen schwer, stellte das monströse von Frank Ruddigkeit , Klaus Schwabe und Rolf Kuhrt geschaffene Kunstwerk im Stil des sogenannten sozialistischen Realismus eine einzige Lobpreisung des herrschenden ideologischen Geistes dar. Es nahm oberhalb des Vordaches annähernd zwei Etagen ein.
Beinahe zwei Wochen waren seit dem letzten Treffen der Sängergruppe und der ausgelassenen Nacht Henrys mit Sieglinde vergangen, und das Wochenende stand bereits erneut vor der Tür. Alle redeten fast nur davon, was sie in den vorlesungs-freien Tagen zwischen Weihnachten und dem neuen Jahr anstellen wollten.
„Habt ihr es schon gehört?“, fragte allerdings gerade einer der männlichen Studenten aus einem etwas älteren Semester, leicht aufgeregt, der mit einigen anderen zusammen durch die Flure lief. Er wirkte groß und trug recht lange blonde Haare. Henry , mit im Pulk, wurde aufmerksam. Ihn kleidete wie viele Anwesende die blaue FDJ-Kleidung, nicht unbedingt mehr aus völliger Überzeugung, sondern weil die Mitgliedschaft in der Parteiorganisation nach wie vor Hindernisse aus dem Weg zu räumen half. Ein Austritt käme nicht in Frage, schon der Eltern wegen! Er blickte den älteren freundschaftlich von der Seite her an, denn jener gehörte ebenfalls zu den Sängern; war sozusagen als Mitbegründer bei den ersten Fünf gewesen .
„Nein, was denn?“, fragte er, während sie im Strom der zahlreichen jungen Leute mitschwammen, die mit schweren Umhängetaschen zu ihren Vorlesungen eilten.
„Die neue Verordnung ist raus. Keine Reisefreiheit!“ – er wirkte sehr enttäuscht.
„War wohl fast abzusehen, oder? - Nach Erichs Rede vorletzte Woche, meine ich.“
„Ja, genau, ich habe es euch ja gesagt gehabt. Und was tun wir jetzt, deiner Meinung nach? Das geht doch nicht so weiter!“ Er war einer der radikaleren unter ihnen.
„Weiß ich auch noch nicht. Aber im neuen Jahr müssten wir mal darüber reden…“
„ Reden, reden, reden… ich kann es nicht mehr hören! Wir müssen endlich aufwachen, Genosse , und etwas unternehmen.“
„Was meinst du damit?“
„Nicht hier. Zu viele Zuhörer! Heute Abend bei Elli .“
Letzten Sonntag war ihr Treffen ausgefallen, weil die Hälfte keine Zeit fand. Studium, dazu weihnachtliche Vorbereitungen mit der Familie, FDJ-Aktionen oder auch andere Freizeitinteressen. Vielleicht lag ihnen auch noch die vorherige kontroverse Debatte um zukünftige Aktionen der kleinen Gruppe im Magen.
„Na gut. Mobilisieren wir die anderen. - Kann ich Siggi mitbringen?“, fragte Henry . Sieglinde hatte ihm schon vor einer Weile in den Ohren gelegen, dass er sie doch zu ihren Treffen mitnehmen solle, aber er hatte stets bestimmend abgewinkt, solange sie noch nicht achtzehn war. Diese Begründung war jetzt weggefallen, und auch seine Mahnung, dass es viel zu gefährlich sei, wegen der Stasi überall, und er sie nicht in Gefahr bringen wolle, zog beim letzten Mal kaum noch.
Der andere überlegte kurz und machte dabei ein eher verdrießliches Gesicht. „Na schön, von mir aus.“, nickte er schließlich und fügte dann mit fester Stimme keinen Wiederspruch duldend hinzu: „Aber sie stimmt nicht mit ab!“
Alles, was die Gruppe vereinbarte, wurde stets mehrheitlich entschieden. Ganz demokratisch eben. Der Altsemester wollte keine weitere zurückhaltende Stimmbe-rechtigung , die womöglich ein Patt bedeuten würde, oder noch eine, die seiner Vorstellung von den zukünftigen radikaleren Aktivitäten der Sänger entgegenstand.
„Gut, dann sagen wir den anderen Bescheid. Ich denke, es sind heute alle hier. Wird aber trotzdem schwierig, so kurzfristig – mal sehen, wen ich finden kann. Jens ist mit mir zusammen später in der Wirtschaftsvorlesung.“
Im Gegensatz zur Bohnenstange Henry war sein vor kurzem neu gewonnener bester Freund Jens Ostrau, den er dem Altsemester gegenüber hier erwähnte, ein kleinerer, aber kräftiger junger Mann von gegenwärtig zwanzig Jahren aus einer Großfamilie schlesischen Ursprungs, der schon früh in seinem Leben sehr auf seinen Körper geachtet hatte. Er wirkte sportlich, trainiert, verfügte über eine für sich einnehmende Ausstrahlung und eine kultivierte, auch in der Freizeit mundartfreie deutliche Aussprache. Mit dessen klangheller, fast schon etwas zu weiblichen Stimme, die ein wenig an Annie Lennox von den Eurythmics erinnerte, hätte Jens sich gut als Frontsänger in einer Pop-Band einen Namen machen können. Und tatsächlich konnte er deren Vorjahreshit Sweet Dreams beinahe perfekt nachahmen, wenn er wollte. Jens´ Kinn war kantig, männlich, aber wie das gesamte Gesicht bartlos; der Kopf verbreiterte sich nach oben hin leicht trapezartig und wurde von einer vollen dunkelbraunen Haartracht bedeckt, die allerdings vorn und hinten recht kurz gehalten sowie mäßig gescheitelt war. Zum Lesen benötigte er aufgrund einer geringfügigen Weitsichtigkeit für seine runden Augen undefinierbarer Farbe eine Brille, die er aber bei allen anderen Gelegenheiten einer gewissen Eitelkeit folgend versteckte.
Henrys Freund nahm das Leben und alles was damit zusammenhing sehr ernst, lächelte aber oft und besaß einen schier klamaukhaften Sinn für Situationskomik, den er auch während der Treffen der Sänger immer mal wieder einsetzte, um allzu aufgeheizte Stimmungen zu durchbrechen. Sein Gesichtsausdruck wirkte stets offen und ehrlich, und so, als könne ihn kein Wässerchen trüben. Er war nicht wirklich extrovertiert, aber doch mitteilsam und dabei äußerst sprachgewandt. Sie hatten sich bereits in den Sommerferien vor dem Studienantritt kennengelernt, aber nicht auf Rügen, sondern hier in Leipzig, und schnell festgestellt, dass sie eine Menge Interessen teilten: Die Liebe zum Jazz und ein bestimmter Frauentyp waren nur zwei davon. Im Augenblick hatte er aber keine feste Freundin; vielleicht war er sogar ein wenig neidisch auf die Beziehung, welche Henry und Sieglinde pflegten. Obwohl er das sicher nicht musste, denn er besaß ein sehr attraktives Erscheinungsbild; ohne große Mühe hätte er wohl fast jede haben können. Es gab drei oder vier hübsche Studentinnen desselben Jahrgangs, die es sogleich bei ihm versucht hatten, aber diesbezüglich erwies er sich als resistent, denn sie passten nicht in das von ihm bevorzugte Beuteschema, das den Intellekt und die Spontanität über das Aussehen stellte. Daher hatten diese sich anderen Studenten zugewandt, eine davon ging jetzt mit einem der weiteren Sänger .
Wenn man Jens mit dem etwas radikal eingestellten Altsemester verglich, der permanent auf Randale aus zu sein schien, wirkte ersterer beinahe wie ein Fels in der Brandung. Alle drei zusammen bildeten sie ein äußerlich ungleiches Trio und inzwischen so etwas wie den harten Führungskern der Sonntagsrunden. Obwohl Henry erst etwas später dazu gestoßen war, wurde er dank Jens´ Fürsprache gleich von allen angenommen und respektiert.
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