Mehrfach schon hatte er auf die Uhr gesehen und auf einen Anruf von ihr gewartet. Sie hatte sich noch nicht gemeldet. Guy wollte nicht aufdringlich erscheinen und entschied sich, nicht im Hotel anzurufen, sondern auf ihren Anruf zu warten. Wenn sie sich nicht bis zum Mittag meldete, dann würde er im Hotel anrufen und sich mit Claudine Lebrun verbinden lassen. Er war schon kurz davor, die Nummer des Hotels zu wählen, als sein Telefon klingelte.
„De Moros“, meldete er sich.
„Hallo Guy, hier ist Claudine, störe ich?“
„Hallo Claudine, du störst überhaupt nicht, ich habe schon auf deinen Anruf gewartet. Soll ich dich am Hotel abholen? Wir könnten einen kleinen Ausflug unternehmen, ich habe eine ganz gute Idee.“
„Guy, es geht leider heute ganz schlecht. Ich habe ein Rendezvous mit einer alten Freundin. Das haben wir bereits vor einigen Tagen verabredet. Wir werden uns am Nachmittag in Quimper treffen und etwas bummeln gehen. Ich habe es gestern vergessen zu erwähnen. Aber wie wäre es mit Morgen, sagen wir gegen zehn Uhr?“
„Ja, gerne, ich freue mich darauf!“ Guy legte auf und war hoch erfreut, dass er sie wenigstens am nächsten Tag wiedersehen würde. Die erste Enttäuschung war schnell verflogen. Er nahm seine Arbeit wieder auf und widmete sich dem neuen Roman. Noch drei oder vier ergiebige Tage, dann wäre sein nächstes Buch beendet.
Es war später Nachmittag und der Feierabend rückte näher. Ewen Kerber saß an seinem Schreibtisch im Kommissariat von Quimper und betrachtete das Bild seiner Frau Carla. Es war jetzt schon mehr als zwei Jahre her, dass er Carla Rozier geheiratet hatte. Für Ewen waren es zwei wundervolle Jahre gewesen und er hoffte, dass noch viele folgen würden. Die alten Probleme, die Carla das Leben schwer gemacht hatten, waren beseitigt, und ihre Tochter Marie hatte die psychische Belastung der Vergewaltigung überwunden. Wenigstens schien es, als sei diese Episode beendet.
Er hatte den Fall zu einem Abschluss bringen können, sozusagen ein Abfallprodukt des letzten Mordfalles. Den letzten Fall hatte er, gemeinsam mit seinem Freund, Henri Medernach, einem ehemaligen Polizeikommissar aus Luxemburg gelöst, der bereits seit einigen Jahren pensioniert war.
Es ging damals um die Ermordung eines Geheimagenten und das Ausheben einer Fälscherwerkstatt. Henri Medernach war es, der ihm den entscheidenden Tipp gegeben hatte, und der schlussendlich zum Abschluss des Falles geführt hatte.
Das Telefon klingelte, sein Kollege Paul Chevrier rief an.
„Ewen, wir haben einen neuen Fall. Ein Passant hat am Ufer des Steïr , in der Nähe des Boulevard du Moulin au Duc, eine Frauenleiche gefunden. Yannick und Dustin sind bereits auf dem Weg zur Fundstelle.“
Yannick Detru, der Pathologe und Dustin Goarant von der Spurensicherung waren schon seit Jahren ein eingespieltes Team, und Ewen wusste, dass er sich auf die zwei Kollegen absolut verlassen konnte.
„Du kannst schon mal zum Wagen gehen, ich komme sofort nach“, sagte Ewen zu seinem Kollegen und legte den Hörer auf. Er zog sein Jackett an, das er lässig über die Stuhllehne des Besuchersessels gelegt hatte und ging hinunter auf den Parkplatz zu seinem Kollegen Paul. Gemeinsam fuhren sie die kurze Strecke zum Steïr .
Der Steïr ist ein kleiner Nebenfluss des Odet, der durch einen Teil der Innenstadt fließt, bevor er in den Odet mündet. Am Ufer des Steïr hat der, regelmäßig mittwochs und samstags dort stattfindende, Markt, seit Jahren schon seinen festen Platz gefunden. Die Stadt hat das neue Kino am nördlich gelegenen Ende des Gebietes errichtet und einen großen Parkplatz für die Kino- und Marktbesucher angelegt. Die Wege entlang des Steïr sind erneuert worden, zum Teil sogar neu angelegt, die Böschungen frisch gestaltet und ein Kinderspielplatz eingerichtet. Jetzt wird die einst so triste Gegend von zahlreichen Joggern und Spaziergängern besucht und der Kinderspielplatz ist gut frequentiert.
Als die beiden Kommissare auf dem Parkplatz, am Ende des Boulevard du Moulin au Duc, angekommen waren, konnten sie die Polizeifahrzeuge und die weitläufige Absperrung sehen, die die Kollegen bereits angebracht hatten. Der Parkplatz war wegen des Marktes gut gefüllt. Sie stellten ihren Wagen hinter den anderen Einsatzfahrzeugen ab.
Ewen Kerber ging unter der Absperrung hindurch und trat zu Yannick Detru, der noch mit der Untersuchung der Leiche beschäftigt war.
„Kannst du mir schon etwas sagen, Yannick?“
„Die Frau ist vor ungefähr drei Stunden ermordet worden. An ihrem Hals sind deutliche Würgemale zu erkennen. Sie hat auch eine Kopfverletzung, die von einem stumpfen Gegenstand herrührt. Diese Verletzung ist aber nicht tödlich gewesen. Unter ihren Fingernägeln haben wir etwas Blut gefunden, vielleicht stammt es von ihrem Mörder. Alles Weitere nach der Obduktion.“
Ewen Kerber sah die Leiche an. Er sah in das Gesicht einer jungen, sehr schönen Frau. Ihre Kleidung war eher durchschnittlich aber mit einem gewissen Chic. Er sah, dass die Bluse der Frau zerrissen war, so als hätte man versucht, sie ihr herunterzureißen.
„Ist die Frau vergewaltigt worden?“
„Das kann ich dir noch nicht sagen, Ewen. Wie schon gesagt, alles Weitere nach der Obduktion.“ Damit erhob sich Yannick Detru und verließ den Tatort.
Ewen sah sich weiter um. Neben der Leiche lag ihre Handtasche.
„Dustin, hast du die Handtasche schon auf Spuren untersucht?“, fragte Kerber seinen Kollegen Goarant, der mit der Spurensicherung beschäftigt war.
„Du kannst die Tasche ruhig in die Hand nehmen, Ewen, ich habe sie mir schon angesehen. Ihre Papiere und die Geldbörse habe ich hier.“ Dustin zeigte zwei Plastiktütchen mit den erwähnten Inhalten.
Ewen ging zu Dustin und nahm die Tüte mit dem Ausweis in die Hand.
„Germaine Kerivel“ las er und stellte fest, dass sie aus Morlaix stammte. Er betrachtete das Bild auf dem Ausweis und sah dann auf das Gesicht der Frau vor ihm. Kein Zweifel, es handelte sich um Germaine Kerivel.
Ewen nahm die Handtasche auf und sah sich den Inhalt genauer an. Es war eine recht teure Handtasche, die gut und gerne ihre 1500 Euro gekostet haben mochte. Sie hob sich deutlich vom Stil der Kleidung ab.
Kerber war nicht der absolute Experte in Handtaschenfragen, aber er war doch schon etliche Male mit seiner Frau in Rennes gewesen und hatte, bei der Gelegenheit, die ausgestellten Waren in den eleganten Geschäften der Stadt angesehen. Carla besaß keine Tasche in dieser Preisklasse, aber sie war durchaus von den Handtaschen dieses Hauses begeistert.
Im Innern befanden sich die üblichen Utensilien einer Frau. Lippenstift, Lidschatten, Parfüm, Deodorant, Taschentücher, ein Kugelschreiber, ein Spiegel, Kamm, diverse Schlüssel und eine kleine Haarbürste. Ewen zog den Reißverschluss der Seitentasche auf und entnahm ihm ein zusammengefaltetes Blatt Papier. Als er es öffnete sah er, dass es sich um einen Einzahlungsschein bei der BNP Parisbas handelte, vom heutigen Tag.
„Paul!“, rief er seinen Kollegen, der sich zuvor die Leiche angesehen hatte und nun dabei war, den Passanten zu befragen, der die Frau gefunden hatte.
„Ewen, ich komme sofort!“, antwortete er seinem Kollegen und beendete das Gespräch mit dem Mann. Dann ging er zu Ewen Kerber.
„Ewen, was hast du gefunden?“, fragte er seinen Freund.
„Schau dir einmal diesen Einzahlungsbeleg an. Hier steht, dass die Frau am Vormittag, bei der BNP Paribas in Quimper, einen Betrag von 180.000 Euro eingezahlt hat. Wir sollten uns das Konto der Frau ansehen. Kannst du das erledigen?“
„Geht klar, Ewen, aber wäre es nicht einfacher, wenn du Carla bitten würdest, nachzusehen? Immerhin arbeitet sie bei der Bank.“
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