Alain Dourdy durchschaute sofort, dass sein Freund Guy ihn als Ausrede missbraucht hatte. Natürlich wollte er ihm nicht schaden und schaltete blitzschnell um.
„Oh je, das habe ich doch glatt vergessen, ich mache mich ganz schnell auf den Weg zurück. Hoffentlich ist Guy mir nicht böse. Ich wünsche dir noch einen schönen Tag.“
Damit eilte er zu seinem Wagen und war froh, dass Marie-Julie nicht gefragt hatte, wohin sie gehen wollten. Er wusste nicht, was Guy ihr gesagt haben konnte. Alain und Guy hatten sich schon seit mindestens drei Wochen nicht mehr gesehen.
Marie-Julie betrat die Gärtnerei und dachte doch noch über das Gespräch mit Alain nach. Es war nicht seine Art, etwas zu vergessen. Soweit sie sich erinnern konnte, hatte er noch nie einen Termin vergessen und schon gar nicht, wenn er mit Guy verabredet war. Ihr fiel jetzt wieder der SLK ein, dem sie vor einigen Tagen begegnet war. Damals hatte sie den Eindruck, Guy mit einer fremden Frau zu sehen. Hatte ihr Mann vielleicht doch ein Verhältnis mit einer anderen Frau? Sie wollte es nicht glauben und schob die aufkommenden Gedanken erneut zur Seite. Die Pflanzen bei Le Loupp waren einfach zu schön und nahmen ihre ganze Aufmerksamkeit in Beschlag.
Ewen Kerber kam am nächsten Tag kurz nach acht Uhr ins Kommissariat, sie wollten spätestens um neun Uhr nach Morlaix fahren. Paul Chevrier war bereits in seinem Büro, als Ewen im Kommissariat eintraf. Die Bürotür von Paul stand offen, und Ewen begrüßte seinen Kollegen.
„Ich will mir nur noch schnell die Akte holen, dann können wir losfahren.“
„Ich bin bereit!“, antwortete ihm Paul. Ewen schloss seinen Schreibtisch auf und holte die Akte zu dem aktuellen Fall heraus. Er betrachtete noch einmal die Bilder von der Toten und sah sich die weiteren Fundsachen an. Die Visitenkarten hatte er noch immer in seiner rechten Jackentasche. Gut, dass er nicht so oft sein Jackett wechselte. Gestern Abend hatte er seinen Schreibtisch schon abgeschlossen, als Dustin mit den Karten zu ihm gekommen war. Jetzt nahm er sich ein Blatt Papier und klebte die Karten untereinander darauf, kopierte das Blatt und legte das Original in seine Akte. Die Kopie wollte er Paul geben. In seinem Eingangskorb lagen weitere Gegenstände der Toten. Dustin hatte sie schon am frühen Morgen hineingelegt. Ewen sah sich alles genau an.
Er fand obenauf die Protokolle der Polizisten, von der Befragung auf dem Markt. Ewen überflog die Notizen und stellte fest, dass kein Mensch etwas gesehen haben wollte. Der erste Marktstand lag etwa 200 Meter von der Fundstelle der Leiche entfernt. Da war es durchaus möglich, dass die Aussage zutraf. Das Portemonnaie und die Handtasche lagen auch auf seinem Schreibtisch. In den einzelnen Fächern des Portemonnaies steckten Kreditkarten, der Ausweis und ein Führerschein. Das Bargeld fehlte, was Dustin schon gestern erwähnt hatte.
Aus der Tasche hatte Dustin die Schminkutensilien herausgenommen und in kleine Plastiktüten gepackt. Für Ewen waren die verschiedenen Schlüssel von Bedeutung. Insgesamt gab es drei verschiedene Schlüsselanhänger in der Tasche. Einer davon war einfach zuzuordnen, es handelte sich um einen Fahrzeugschlüssel von einem Renault, vermutlich ein Clio, denn an dem Schlüssel hing ein Schlüsselanhänger mit dem Schriftzug Clio und der Nummer 456 .
Auf ihren Namen war kein Wagen zugelassen, daraufhin waren die Autovermieter befragt worden, ob eine Frau Germaine Kerivel einen Mietwagen fuhr.
An den anderen beiden Schlüsselbunden schienen Hausschlüssel hängen. Nur, wieso waren es zwei verschiedene? Ewen nahm beide Schlüssel an sich, sie würden sie in Morlaix brauchen.
Ewen stutzte und sah sich alle Gegenstände nochmals an. Irgendetwas fehlte hier, nur was? Dann fiel es ihm wie Schuppen von den Augen.
Welche junge Frau konnte heute ohne Handy sein? Aber in der Tasche war keins zu finden gewesen. Wo also war das Handy von Germaine Kerivel? Ewen ging zum Telefon und wählte die Nummer von Dustin.
„Ewen hier, Dustin, habt ihr kein Mobiltelefon bei der Leiche gefunden oder in ihrer Tasche?“
„Mobiltelefon? Jetzt wo du danach fragst fällt es mir auch auf, nein, wir haben kein Handy bei ihren Sachen gefunden. Schon etwas seltsam, da hast du recht.“
Ewen legte auf und überlegte, ob das Fehlen des Handys bedeuten konnte, dass die Frau vielleicht überhaupt nicht am Steïr getötet worden war. Daran hatte er bis jetzt keinen Zweifel gehabt. Nichts hatte auf einen anderen Tatort hingewiesen. Die Frau war erwürgt worden, man hätte sie überall erwürgen und ihre Leiche dann an den Steïr bringen können. Wir müssen ihr Handy finden, ging ihm durch den Kopf.
Ewen nahm seine Akte in die Hand und verließ das Büro. Paul Chevrier kam ebenfalls gerade aus seinem Büro, so dass die beiden Kommissare gemeinsam zum Auto gingen und nach Morlaix fuhren.
Ewen steuerte den Wagen zuerst auf die Schnellstraße, in Richtung Brest. Nach ungefähr 23 Kilometern verließen sie die Schnellstraße und fuhren über die N164 nach Pleyben.
Ewen war ein Liebhaber von alten Kapellen und Kirchen, von denen es in der Bretagne unendlich viele gab. Auch die Calvaires hatten es ihm angetan. Er fotografierte sie leidenschaftlich gerne in seiner Freizeit. In Pleyben fuhren sie an der Kirche, mit einem der schönsten Calvaires der Bretagne, vorbei. Wenn er Zeit gehabt hätte, wäre er ausgestiegen. Er hatte ihn bestimmt schon dreimal besucht. Aber immer wieder entdeckte er etwas Neues.
Sie folgten nun der D785, bis kurz vor Morlaix. Als sie bereits kurz vor der Stadt waren, rief Ewen die dortigen Kollegen an und teilte ihnen mit, dass sie gleich zur Wohnung von Germaine Kerivel fahren würden.
Aus der carte d´identitée hatten sie nur den Wohnort entnehmen können, die Adresse hatten sie sich aus dem Melderegister der Stadt beschafft. Die Wohnung von Germaine Kerivel lag in der Rue Laennec, einer Straße im östlichen Teil der Stadt. Als sie vor dem Haus eintrafen, sahen sie bereits das Fahrzeug des Kollegen aus Morlaix, das genau vor dem Haus parkte.
Ewen und Paul stellten ihren Wagen ab und stiegen aus. Sie gingen auf den Kollegen zu.
„Commissaire Kerber? Ich bin Commissaire Jacques Corbel. Ich freue mich, Sie in Morlaix zu begrüßen.
„Ganz meinerseits“, antwortete Ewen und reichte dem Kollegen die Hand.
„Mein Kollege, Paul Chevrier“, stellte er Paul vor.
„Ich habe schon viel von Ihnen gehört. Letztes Jahr haben Sie doch diesen spektakulären Fall mit den Geldfälschern gelöst. Die Zeitungen sind voll davon gewesen.“
„So spektakulär war der Fall auch nicht“, versuchte Kerber herunterzuspielen. Er mochte nicht gelobt werden.
„Haben Sie einen Schlüssel bei der Toten gefunden?“, fragte Corbel.
„Wir haben mehrere Schlüssel gefunden. Ich habe sie alle mitgebracht, in der Hoffnung, dass einer zur Wohnung passt.“
Die drei Kommissare gingen zum Haus, in dem insgesamt sechs Familien zu wohnen schienen. An dem Briefkasten, in der Mitte der untersten Reihe, stand der Name von Madame Kerivel. Ewen sah sich den ersten Schlüsselbund an und stellte fest, dass an diesem kein Schlüssel für einen Briefkasten hing. Er sah sich den zweiten an, hier sah er einen deutlich kleineren Schlüssel, der zu einem Briefkasten passen konnte. Er nahm den Schlüssel und versuchte den Briefkasten zu öffnen. Die Klappe öffnete sich, und aus dem Kasten fielen fünf Briefe heraus. Ewen fing die Briefe auf und gab sie Monsieur Corbel.
„Mir scheint, dass ich hier den richtigen Schlüsselbund habe. Lasst uns mal in die Wohnung gehen.“
Die Wohnung von Madame Kerivel lag auf der zweiten Etage. Als sie vor der Wohnungstür standen, nahm Ewen den Schlüssel, den er als Wohnungsschlüssel identifiziert hatte, und steckte ihn ins Schloss. Der Schlüssel passte, und die Tür ließ sich leicht öffnen. Die drei Kommissare betraten die Wohnung. Sie vermittelte einen sehr aufgeräumten Eindruck. Alles schien, unberührt zu sein. Nichts deutete darauf hin, dass hier jemand eingebrochen war und nach etwas gesucht hatte. Sie machten sich an die Arbeit, die Wohnung systematisch zu durchsuchen. Ewen hoffte einen Anhaltspunkt zu finden, der ihm weiterhelfen würde.
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