»Nein!«
Eine Fünf? Was für eine unverschämte Unterstellung. Jetzt erlaubt sie sich auch noch, mich zu beurteilen, mich zu bewerten, mir einen Stempel aufzudrücken, meinen persönlichen Wert als Mensch festzustellen?
»Wieso weinst du denn dann?«
Seltsam, jetzt weiß ich wieder, warum ich weine. Ich habe eine Zwei. Es liegt tatsächlich an meinem Zeugnis. Ich muss der Frau ein wenig dankbar sein, da sie mich auf diese Idee gebracht hat. Dennoch wäre es mir lieber, nicht mit ihr reden zu müssen. Aber als Dank gebe ich ihr mit zitternder Stimme eine Antwort:
»Ich ... ich ... i ... ich ... habe ... ha ... habe eine Zwei ... eine Zwei in Werken.«
Die Frau sieht mich entgeistert an und sagt erst mal nichts. Sie scheint mich nicht zu verstehen. Weiß sie denn nicht, dass das bedeutet, unfähig zu sein? Mir ist das jedenfalls mit dieser Zwei ziemlich klar gemacht worden.
Meine Hände sind zu nichts zu gebrauchen. Ich werde mit meinen eigenen Händen keinen Todesstern bauen können und ich hätte gern einen gebaut. So eine Kugel aus Stahl um mich herum, würde mich vor den Menschen beschützen. Sie wäre genau das Richtige für mich gewesen. Hierhin hätte ich mich zurückziehen können und jeder der versucht hätte, mich zu holen, wäre von einem vernichtenden Laser getroffen worden. Aber so ist es nicht und so wird es offenbar auch niemals sein.
Ich stehe schutzlos auf dem Bürgersteig und bin dem Mitleid der gepunkteten Frau ausgeliefert.
Auch wenn mir das nicht gefällt, sie meint es nur gut, wie sie da steht und sagt:
»Eine Zwei ist nicht schlimm, denn sie bedeutet, dass du gut werken kannst.« Irritierenderweise lacht sie dabei. Es ist ein erleichtertes Lachen. Die gepunktete Frau ist erleichtert. Ich hingegen bin erschüttert. Offensichtlich weiß sie nicht, wie an einer Grundschule benotet wird. Die Guten bekommen eine Eins und die Schlechten bekommen eine Zwei. Dreien, Vieren, Fünfen oder gar Sechsen gibt es so gut wie niemals. Grundschullehrkräfte sind in ihrer Bewertung sehr eigen. Zumindest denke ich das. Ich weiß eigentlich nicht, was die anderen für Noten haben, denn ich weiche ihnen aus, so gut ich kann. Leicht ist das nicht, denn im Klassenraum sind fast 30 Menschen dauerhaft zusammengepfercht. Gern hätte ich stattdessen die schon erwähnte Stahlkugel um mich herum, dann könnte ich mich dem sozialen Irrsinn komplett entziehen.
Da die Menschen in der Schule sozial abhängig sind, läuft dort nämlich ständig die Show der Selbstdarsteller. Beinahe jeder versucht, irgendeinen der anderen im Raum zu beeindrucken. Die Streber wollen ständig Lob von den Lehrern, die Idioten reißen die Aufmerksamkeit von allen an sich, indem sie permanent nerven und selbst die, die so tun als ob ihnen alles egal wäre, erwische ich dabei, wie sie die Bewunderung genießen, die ihnen andere dafür zu Teil werden lassen. Selten weiß ich während dieses Affentheaters, wer mit dem gerade aktuellen so genannten »Trend« begonnen hat. Welcher idiotische Diktator hat zum Beispiel bestimmt, dass man an seinem Geburtstag in der Schule »Geburtstagskloppe« bekommt. Dabei wird einem pro vollendetem Lebensjahr von jedem beliebigen Schüler ein fester Schlag auf den Oberarm erteilt. Als ob es nicht schon schlimm genug wäre, dass man an dem Tag im Mittelpunkt stehen muss. Man bekommt schon am Morgen Geschenke, über die man sich zu freuen hat. Man muss für den Nachmittag Mitmenschen einladen, die einem dann alle die Hand schütteln oder schlimmer noch einen Umarmen oder gar küssen. Da kann ich ja gleich am Toilettendeckel an der Autobahnraststätte lecken. Das ist doch nicht normal. Als ob das eigene Leben nur dafür da wäre, die anderen zu unterhalten. Wer normal und gesund ist, interessiert sich nicht für die Anderen. Wenn es um die Schrift geht, kommt es darauf an, dass ich es lesen kann und nicht die dumme Lehrerin, die kann sich doch selbst was aufschreiben, wenn sie was zum Lesen braucht. Im Werken muss ich mein Vogelhaus nicht mit dem der anderen vergleichen, sondern wenn überhaupt dann muss es den Vögeln gefallen. Dieses fette Grinsen der angeblich handwerklich so begabten, wenn sie eine Eins bekommen, ist nichts weiter als die hässliche Grimasse der Sucht nach sozialer Anerkennung. Ohne diese Anerkennung würde diesen Menschen plötzlich bewusst, dass sie keine Persönlichkeit, keine eigenen Interessen, kein Selbstbewusstsein haben. Wie eingesperrte Raubtiere im viel zu engen Käfig, würden sie den ganzen Tag apathisch hin - und her wippen. Aber dann wären sie mit den Gedanken wenigstens mal bei sich und hätten eine Chance ihr Ich zu finden. Zum Glück sind jetzt Ferien und ich muss mich eine Weile nicht mit den Irren aus dem Klassenzimmer befassen. Meine Tränen sind getrocknet und ich schlurfe nun etwas erleichtert nach Hause.
Ich gehe nicht gerne raus. Es sind meistens zu viele Menschen draußen, aber dieser Ort ist magisch. Die Fantasiewelt im Freizeitpark ist wie für mich geschaffen. Sie lässt jedes Kinderherz höher schlagen. Überall blinken bunte Lichter. Die lachenden Figuren begrüßen mich freundlich. Ich kenne die Figuren aus meinen Comics und den Zeichentrickserien. Es gibt lustige kleine Fahrzeuge, in denen ich mich ganz groß fühle. Alles leuchtet in hellen, freundlichen Farben. Hier existiert kein Grund Angst zu haben. Ich habe mein Königreich gefunden. Es ist voller netter Untertanen, die nur für mich da sind, die mich verwöhnen und bespaßen wollen. Doch irgendetwas trübt meine Stimmung.
Als ich so auf den tropisch fruchtfarbenen Wegen gehe, spüre ich etwas. Bekomme ich einen Herzinfarkt? Aber bin ich nicht noch viel zu jung dafür? Ich fühle ein Ziehen in meinem rechten Arm. Das ist doch ein Anzeichen für einen Herzinfarkt, zumindest hab ich das irgendwo gehört. Ich bekomme Panik, dann wird mir plötzlich alles klar. Das Ziehen ist nur ein Weckruf. Was bedeutet Fantasiewelt? Es bedeutet, dass sie nicht echt ist. Sie ist eine Illusion. Diese Welt existiert nicht. Ich blicke an meinem Arm herunter und stelle fest, dass das Ziehen nicht von einer Herzattacke stammt, sondern von einem Sicherheitsseil, an dem mich jemand festhält. Ich werde von verwandten Personen an der Leine herumgeführt wie ein Hund. Ich bin zurück in meinem fremdbestimmten Leben. In der Fantasie war die Welt beglückend, ja geradezu perfekt. Jetzt erkenne ich den Betrug. Durch diese Leine wird mir bewusst, wie viele Leute um mich herum sind. Geblendet vom bunten Licht und den Grinsegesichtern der Figuren hatte ich die Menschenmasse nicht wahrgenommen. Diese verdammte Leine hat mich aus dem einlullenden Tagtraum geweckt. Sie schreit: »Vorsicht Illusion! Lass dich nicht verarschen!« Jede Attraktion, jedes lustige Fahrzeug, jedes Lachen, jede Figur ist falsch. Nichts wurde für mich gemacht, sondern alles ist Kulisse für viele. Meine kindliche Zeichentrickwelt ist nun eine tote Wüste. Ich bin immer noch an der Leine und werde zum Zuckerwattestand gezerrt. Heute schmeckt die Zuckerwatte nach Zahnarzt. Was soll das? Wie werde ich die Leine los?
Ich will weglaufen und die wahre Zeichentrickwelt finden oder sie erschaffen. Jeder dort soll sich freuen und tun dürfen, was er möchte. Wer einen Berg hinunter rollen will, rollt einfach los und wenn er fällt, dann fällt er weich. Wer Hunger hat, findet immer das Essen, was er mag und kann essen, wann er will und nicht, wann die Großen es wollen. Wozu mit anderen Menschen beschäftigen, wenn es überall Interessantes zu entdecken gibt? Ich werde Tiere beobachten und vielleicht auch jagen. An den Bäumen werden süße Früchte wachsen. Die Welt wird großzügig aufgeteilt. Jeder bekommt ein Stück für sich. Wer möchte, muss nie einen anderen Menschen treffen. Niemand wird beäugt, begutachtet, geächtet, gehypt oder vergöttert. Die Menschen leben friedlich nebeneinander.
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