Die verschwundenen Kinder sind nie mehr aufgetaucht. Der Fall konnte bis zum heutigen Tag nicht geklärt werden.
In der Schule ging es zu wie in jeder anderen beliebigen Schule wahrscheinlich auch. Manche Lehrkräfte empfanden wir als gut, andere wurden gar nicht gern gesehen. Bei den Schülern war es genauso. Die meisten waren recht brav aber es gab immer einen der für seine Streiche bekannt oder auch gefürchtet war. Bei uns in der Klasse war das der Werner. Man konnte nie sicher sein. Wenn er in der Nähe war, ließ er sich immer etwas Neues einfallen. Er hatte immer eine Idee die Lehrer zu ärgern. Einer älteren Lehrerin, die gerade ihren Führerschein erhalten hatte und nun stolz einen Volkswagen fuhr, legte er mal zwei Holzklötze unter das rechte Hinterrad. Als diese nun nach Schulschluss heimfahren wollte ging beim Versuch anzufahren immer wieder der Motor aus. Egal wie viel Gas sie gab, vorwärts oder rückwärts wollte, das Auto rührte sich nicht vom Fleck. Ein zur Hilfe geholter Hausmeister entdeckte dann den Grund. Nicht nur die Schüler, auch die Lehrerschaft, haben heimlich noch lange darüber gelacht. Die Lehrerin hat seit dem Tag immer nach allen Rädern geschaut bevor sie einstieg.
Zu der Zeit wurden die Kinder noch geschlagen, wenn sie unachtsam waren oder etwas angestellt hatten. Da gab es Lehrer, die deswegen gefürchtet waren. Mir ist sogar ein Fall bekannt, wo einem Schüler durch die Schläge das Trommelfell geplatzt ist. Der Lehrer wurde nicht zur Rechenschaft gezogen. Das war eben damals völlig normal, schlagen in der Schule. Was mich aber immer erstaunt hat war: am häufigsten rutschte die Hand Vertretern der Kirche aus. Egal ob Pfarrer oder Religionslehrer. Schon sehr merkwürdig und schwer zu verstehen als Kind. Im Laufe der Jahre wurde es aber immer weniger. Die Neuzeit kam auch langsam in der Schule an.
Zuhause führten wir ein ärmliches Leben, allzu oft war kein Geld da um genug Lebensmittel einzukaufen. So passierte es schon mal, dass wir ohne Frühstück zur Schule mussten oder kein Pausenbrot mitbekommen haben. Der Körper fühlte sich matt und schwach, der Magen knurrte. Vor Hunger war mir oft schlecht. Um etwas zum Essen auf den Tisch zu bringen gingen wir einmal auf einem Feld „stoppeln“, wie die Mutter es nannte. Wir liefen einen schon abgeernteten Acker ab und haben dann die von der Erntemaschine nicht gefundenen oder auch wieder heruntergefallenen Kartoffeln aufgelesen. Doch das sahen die Bauern gar nicht gerne. Lieber haben sie diese Reste verrotten lassen, als dass wir sie uns holen durften. Sie sprachen sogar offen von Diebstahl und haben anderen wirklich gar nichts gegönnt. Unser Speiseplan war meistens sehr dürftig. Erbsensuppe, Linsensuppe, Bohnensuppe, wenn möglich mit Gemüse aus dem Garten oder Kartoffeln mit einer dünnen Mehlsoße. Das wurde fast täglich zu Mittag gegessen. Das Abendessen bestand aus Brot und Margarine, im Sommer garniert mit Schnittlauch oder Radieschen. Wenn wir Glück hatten gab es auch mal Marmelade. Getrunken wurde Leitungswasser. Manchmal hat die Mutter uns Kindern auch einen Kakaotrunk aus Wasser und Schokoladenpulver zubereitet, mit Dosenmilch verfeinert. Das war aber selten der Fall. Wir haben dann so viel davon getrunken, so dass der Bauch weh tat. Fleisch kam bei uns fast nie auf den Tisch, und wenn mal dann nur am Sonntag. Vater hat hin und wieder schon mal ein Kotelett oder ein Schnitzel gegessen. Für alle reichte das Geld aber nicht. Süßwaren, Kuchen oder andere Leckereien gab es nie, weil es zu teuer war. Wenn die Tante mit dem Onkel zu Besuch kamen hat Mutter meistens Wurstaufschnitt gekauft, der denen dann aufgetischt wurde. Die Eltern haben im Wohnzimmer mit ihnen gegessen. Wir Kinder dagegen in der Küche.
Irgendwann zu dieser Zeit wurden wir Kinder dann zu der am Ende der Strasse ansässigen Metzgerei geschickt, um nach Abfällen zu fragen. Der Inhaber, selbst Vater von 4 Kindern, gab uns großzügig eine ganze Tüte voll Wurstzipfeln und ein wenig schon angelaufene Ware. Nun bekamen wir fast täglich 50 Pfennig in die Hand gedrückt und mussten dort Abfall holen. Mir war das schon peinlich, denn ich habe mich doch immer sehr geschämt. Nicht genug, dass uns viele Leute schon als Flüchtlinge bezeichneten, den Abfall der Menschheit. Jetzt mussten wir auch noch um Abfall betteln. Die Bezahlung mit 50 Pfennig war ja nur symbolisch. Wenn der Metzger nicht selbst im Laden stand und nur eine Angestellte bediente war es besonders peinlich. Da sie wohl der Meinung war, etwas Besseres zu sein ließ sie uns das auch spüren. „Aha, da sind ja mal wieder unsere neuen Kunden, die Flüchtlinge. Willst wohl wieder Abfall haben“, rief sie laut, damit es auch alle Anwesenden verstehen konnten und grinste noch dabei. Schon beschämend und ich wäre am liebsten im Erdboden versunken.
Es gibt eben, wie überall auf der Welt, gute und weniger gute Menschen. Viele Leute im Ort behandelten uns wie Aussätzige mit musternden, entwürdigenden Blicken oder unqualifizierten, dummen Sprüchen ließen sie ihrer Ablehnung freien Lauf. Manche verboten sogar ihren Kindern mit uns, den schmutzigen Flüchtlingen, zu spielen. Einem Kind, welches als Mensch zweiter Klasse abgestempelt wird, tut so etwas sehr weh. Vor allem, wenn man daheim auch noch so behandelt wird. Ungeliebte Kinder können sich nicht normal weiterentwickeln und sind für die Zukunft geschädigt.
Es gab aber auch sehr viele nette Leute, die uns wie jeden anderen Menschen auch behandelten, aber da fing das Dilemma dann an. Diese wirklich netten Mitbürger schenkten uns oft Kleidung, Schuhe und andere Gebrauchsgegenstände, wie etwa auch mal ein Möbelstück. Schon waren sie in der Zwickmühle. Einerseits wollten sie vor allem uns Kindern helfen, anderseits unterstützten sie damit auch die Faulheit des Vaters. Natürlich waren wir eine große Familie, die zu unterhalten einiges kostete aber mit dem Einkommen einer regelmäßigen Tätigkeit und dem Kindergeld vom Staat konnte man doch gut über die Runden kommen. Mit Faulheit jedoch kommt man nicht weit. In dem Wohnblock lebten fast nur Familien mit Kindern. Die Mütter waren alle daheim, versorgten die Kinder, gingen nicht, wie heute üblich, arbeiten. Die Männer waren alle Arbeiter oder kleine Angestellte. Es gab also nur ein Gehalt und trotzdem sind viele im Laufe der Zeit ausgezogen. Sie hatten sich ein Eigenheim gebaut. Bei uns reichte es nicht mal zum Notwendigsten. Wir Kinder trugen alle nur geschenkte Kleidung und Schuhe. Als einmal keine Schuhe in meiner Größe vorhanden waren musste ich flache Damenschuhe anziehen und damit auch die Schule besuchen. Was war das so peinlich. Ich versteckte mich wo es nur ging. An eine Nachbarin erinnere ich mich sehr gerne. Diese Frau, ihr Mann war im Krieg gefallen, war eine Seele von Mensch. Immer nett, immer höflich, immer korrekt. Bevor diese Dame etwas verschenkte, hat Sie uns immer kleinere, leichte Arbeiten verrichten lassen, wie den Hof kehren, Kohlen aus dem Keller holen oder einkaufen. So hat sie uns die Menschenwürde gelassen. Als ich dann erwachsen und schon verheiratet war habe ich dieser vorbildlichen, netten Frau immer wieder mal eine Ansichtskarte geschrieben. Sie hat sich darüber sehr gefreut.
Eine andere Frau hat sich einmal absichtlich, sehr laut, im Hof mit einer anderen über unsere Mutter geäußert. Sie meinte: „die arme Frau tut mir schon leid, so viele Kinder bringen viel Arbeit mit sich, sie kommt ja gar nie zur Ruhe. Dem Mann sollte man den Dietel abschneiden. Der arbeitet nicht, ist immer nur zuhause, angeblich krank aber Kinder zeugen, das kann er. Dafür ist der nicht krank, das geht, der faule Hund“. Der Vater stand in der Küche hinter vorgezogener Gardine und hörte alles mit an, schimpfte wie ein Rohrspatz aber das Fenster öffnen der Frau die Meinung sagen dazu war er zu feige.
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