Wir waren heilfroh, wenn der Vater, was leider nur sehr selten der Fall war, zu einer Schulung der Partei über Agrarwirtschaft oder Ähnliches eingeladen wurde. Er war dann ein paar Tage nicht zu Hause. Wir mussten keine Angst vor Bestrafung haben. Die Mutter sah das allerdings mit einem lachenden und mit einem weinenden Auge. Sie hatte Angst vor den Russen. Die Soldaten der Besatzungsmacht hielten sich oft im Wald hinter dem Dorf zum Manöver auf. Lautes Rasseln von den Ketten ihrer schweren Panzer war dann weit zu hören. Kamen sie in unsere Nähe vibrierte das ganze Haus. Die Teller und Tassen klirrten laut im Schrank und tanzten in den Regalen. Die Soldaten hat man streng bestraft, wenn sie sich ungebührlich verhielten. Trotzdem gab es immer wieder Übergriffe auf Frauen, vor allem, wenn die Männer Alkohol getrunken hatten. Sofern der Vater unterwegs war und die Mutter Panzer hörte, mussten wir sofort ins Haus. Alle Rollläden wurden geschlossen, die Türen abgesperrt. Wir verbarrikadierten uns regelrecht in der Wohnung. Vor die Eingangstür stellte die Mutter stets noch ein schweres Möbelstück, meistens eine alte Eichenkommode. Bei eintretender Dunkelheit wurden sämtliche Lichter gelöscht und wir alle waren mucksmäuschen still. Eine gespenstische Szenerie breitete sich aus der Wind half dabei kräftig mit. Wild pfeifend trug er jedes Geräusch ins Haus. Mutter machte die ganze Nacht kein Auge zu, hielt aufgeregt Wache. Erst wenn der Morgen dämmerte löste sich ganz allmählich die aufgestaute Anspannung.
Im Juli 1958 brachte die Mutter ein weiteres Kind, ein Mädchen, zur Welt, es erhielt den Namen Johanna.
Mein erster Schultag, auf den sich Kinder, schon wegen der Schultüte mit all den kleinen Leckereien, im allgemeinen so freuen, endete fast schon erwartungsgemäß, enttäuschend. Die ersten Schulutensilien wie Ranzen, Schiefertafel, ABC-Fibel, Bleistifte und Schreibhefte bekamen wir Kinder von der Genossenschaft. Auch die schöne, bunte, für uns Kinder doch recht große Schultüte, war ein Geschenk. Nur für deren Inhalt waren die Eltern zuständig. Es war damals eine schwere Zeit. Man konnte, sehr wenig kaufen und Süßwaren gab es fast nie. So war dieser Tag für uns Kinder natürlich spannend, was den Inhalt der Schultüte betraf. Nur an diesem für uns so besonderen Tag gab es, außer Weihnachten und vielleicht zum Osterfest, Bonbons, Gebäck oder sogar Schokolade. Ich will es kurz machen, meine Tüte war bis oben hin mit Papier ausgestopft, darauf lagen ein paar vom Tag zuvor gepflückte Pflaumen.
Im Spätsommer 1960 geschah nun etwas, was unser ganzes zukünftige Leben in völlig neue Bahnen leiten sollte. Elvira, ein frühreifes 13jähriges Mädchen aus unserem Dorf wurde während der Heuernte völlig nackt auf einer anliegenden kleinen Waldlichtung entdeckt. Auf ihr lag unser Konrad, ebenfalls ohne Kleidung. Was für ein Skandal für unseren kleinen Ort. Das Mädchen wurde seinen Eltern übergeben. Diese kamen mit der Schande, die ihre Tochter ihnen gebracht hatte gar nicht zurecht, Tage später verschwand das Mädchen in ein Erziehungsheim. Der Konrad aber, der mit seinen 9 Jahren gar nicht wusste um was es da eigentlich ging, wurde am Abend vom Vater dermaßen mit einem Stock niedergeknüppelt, bis er zu Boden ging. Das war ihm aber immer noch nicht genug und so traktierte er ihn auch noch mit den Füßen. Dabei wurde dem Konrad der linke Arm ausgerenkt. Erst am nächsten Tag, als der Vater wieder bei der Arbeit war ging die Mutter mit Konrad zum Arzt. Als dieser die schweren Verletzungen sah und auch behandelte, redete er streng auf die Mutter ein bis sie berichtete wie es dazu kam. Der Doktor meldete den Vorfall dann sofort dem Parteivorsitzenden im Ort, da dieser auch die Polizeigewalt im Dorf inne hatte. Den Konrad behielt er aus Sicherheit erst mal bei sich in der kleinen Krankenstation. Der Vorsitzende wiederum bestellte den Vater für den nächsten Tag zum Verhör in sein Amtszimmer. Eine Vorladung wegen schwerer Misshandlung beim Parteivorsitzenden kam meistens einer Verurteilung gleich. Man musste mit schwerem Arrest rechnen oder konnte gar eine Gefängnisstrafe erwarten. Das wusste auch der Vater und ist noch in derselben Nacht spurlos verschwunden. Feige hatte er sich davongeschlichen, die Familie einfach in Stich gelassen, nicht einmal der Mutter eine Nachricht hinterlassen.
Dem Konrad wurde nach örtlicher Betäubung der Arm wieder eingerenkt und da sonst, Gott sei gedankt, keine weiteren gravierende Verletzungen festgestellt wurden, konnte er wieder heim und erholte sich auch recht schnell.
Vier Wochen später, im Oktober, wuchs unsere Familie um ein weiteres Mitglied an. Erneut ein Mädchen, das später den Namen Hildegard erhielt, wurde geboren.
Im November bekam meine Mutter Post. Es war ein Brief aus Kaiserslautern, in der Bundesrepublik. Der Brief kam vom Vater, er war in den Westen, wie damals die Bundesrepublik im Volksmund genannt wurde, geflüchtet. Eine Schwester von ihm, die schon länger im Westen lebte und dort verheiratet war, hatte ihn aufgenommen.
So verging das Jahr. Wir lebten nun alle viel ruhiger, ohne die sonst immer erdrückende Angst vor Bestrafung durch den Vater. Wir Kinder vermissten ihn überhaupt nicht. Ohne ihn feierten wir das Weihnachtsfest mit einem herrlich geschmückten Baum und wunderbar duftenden, zusammen mit der Mutter gebackenen Plätzchen. Ein glückliches, zufriedenes, ruhiges Weihnachten.
Im neuen Jahr wurde die Mutter immer nachdenklicher, immer ruhiger. Auf Nachfrage, was denn sei, beruhigte sie uns aber und meinte nur, „es ist nichts, alles in Ordnung“. Nach der Flucht des Vaters und besonders den nun regelmäßig ankommenden Briefe, besuchten uns oft Leute aus der Parteiführung des Dorfes. Allzu neugierig wollten die Männer viele Dinge wissen. Habt ihr denn schon was vom Vater gehört, wo wohnt er denn nun, was macht er dort, kommt er zurück, oder geht ihr vielleicht zu ihm. Wenn die Männer wieder gegangen waren sagte Mutter immer, die wollen uns nur aushorchen, die wollen wissen ob wir vielleicht auch abhauen.
Nie dachte ich daran, die Mutter würde wieder zum Vater gehen, nachdem der sie doch einfach hat sitzen lassen.
Von der kleinen Dorfschule, die nur aus einem Unterrichtsraum, in dem gleichzeitig 4 Klassen unterrichtet wurden und ein Lehrerzimmer bestand, gab es neues aufregendes zu berichten. Unser Lehrer, Herr Baum, hatte sein vor Jahren bestelltes Auto bekommen. Er war der erste Bürger im Ort dem nun ein Privatauto, ein blauer Trabant gehörte. Der Lehrstoff für die nächsten 2 Stunden war somit unumstößlich vorgegeben. Was hat uns der Lehrer alles über sein neues Superauto berichtet. Wir waren nur noch am Staunen. Wie rasend schnell das Auto fahren kann, mehr als 100 Kilometer in einer einzigen Stunde. Er öffnete die Motorhaube und erklärte die Maschine hätte die Kraft von 24 Pferden, macht dabei einige Tausend Umdrehungen in der Minute, und so weiter und so fort. Für uns Kinder einfach unvorstellbar. Nachdem der Lehrer das Fahrzeug auch noch mit Lobgesang auf die Partei als eine technische Errungenschaft vom Sozialistischen Arbeiter und Bauernstaates gepriesen hatte, da durften wir uns sogar einmal in den Fahrgastraum setzen. Was war der Lehrer so stolz auf sein neues Auto. Meistens war es in der Schule auch sehr ruhig, denn durch die strenge Erziehung sind wir eigentlich doch sehr brave Kinder gewesen, bis auf Heinrich.
Heinrich hat immer irgendetwas ausgeheckt, hat immer was angestellt, wie es der Lehrer nannte und noch hinzufügt, Heinrich wäre nicht Heinrich, würde er nichts anstellen. Heinrich war mit seinen 10 Jahren eines der älteren Kinder und besuchte die vierte Klasse der Schule. Bauerstleute haben natürlich keine Angst vor Tieren, da sie den Umgang mit allerlei Vieh gewöhnt sind. Ein kleines Tier zum falschen Zeitpunkt am falschen Ort kann jedoch auch bei diesen Leuten für viel Chaos sorgen und genau da half Heinrich ein wenig nach.
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