„Ich habe mit ihnen gesprochen.“ Der Vater sah Diego ernst an. „Die LaSalles haben mittlerweile auch mitgekriegt, dass ihr Sohn ein bisschen überdreht ist. Sie hoffen, dass du da ein wenig aufpassen kannst, damit er sich nicht allzu sehr in Schwierigkeiten bringt.“
„Was? Ich soll auf den aufpassen? Der taumelt doch von einer Katastrophe in die andere, schneller als ich ´Stop` sagen kann. Weißt du noch, wie er mal für ein paar Wochen bei uns auf dem Schiff war, und wie er unbedingt Tontauben schießen musste, als ein japanisches Küstenwachboot uns gerade gestoppt hatte? Der Kerl hätte fast den dritten Weltkrieg ausgelöst.“
„Ja, weiß ich noch“, nickte der Vater. „Plötzlich krachten ein paar Schüsse auf dem Achterdeck, niemand wusste, was los war, und innerhalb von Sekunden waren zwei Schnellfeuerkanonen mit grimmigen Japanern dahinter auf uns gerichtet.“
„Oder wie er versucht hat, aus Küchenzutaten und Dieselöl einen Feuerwerkskörper zu bauen?“
„Immerhin ist es ihm gelungen“, lachte der Vater. „Ich würde das Ding aber eher einen Brandsatz nennen.“
„Jetzt kannst du darüber lachen, aber ich erinnere mich, dass du damals ganz schön sauer warst. Seine Kabine war ziemlich angekokelt und für den Rest der Reise nicht mehr zu gebrauchen“, meinte die Mutter.
„Genau!“, bestätigte Diego. „Da habe ich dann zum ersten Mal mit ihm zusammengewohnt, und ich muss sagen, ich bin heute noch satt davon. Mir reichts!“
„Damals war er Zwölf oder Dreizehn“, versuchte der Vater abzuwiegeln. „Außerdem war er nur an Bord, weil die LaSalles uns einen Gefallen tun wollten.“
Tatsächlich war es so gewesen, dass Diego damals sehr viel Zeit auf der Yacht seiner Eltern verbracht hatte und zu vereinsamen drohte. Hercules Gesellschaft hatte da aber doch nicht helfen können. Dazu war er schon damals zu oberflächlich gewesen.
„Ich finde übrigens auch, es wäre ganz gut, wenn er in Berkeley jemanden neben sich hat, der ihn ein wenig bremst“, fuhr der Vater fort.
„Und das soll ausgerechnet ich sein? Also ernsthaft: Ich halte das für eine ziemliche Zumutung.“
„Tu uns den Gefallen“, bat die Mutter. „Und die LaSalles würde es auch beruhigen.“
„Ist ja schon gut! Ich mache es ja. Ich werde ihn behandeln, wie einen Bruder. Es ist ein verdammt großes Opfer, aber wenn es denn sein muss ...“
„Willkommen im Leben.“ Das war alles, was Diegos Vater dazu zu sagen hatte.
„Ist ja erst mal nur für ein Semester“, versuchte die Mutter Diego zu beruhigen.
„Tolle Aussichten“, knurrte der leise vor sich hin. Zumindest das erste Halbjahr seines Aufenthalts in Berkeley war ihm jetzt schon vermiest.
Das Miramar Plaza an der Balboa Avenue war eine der ersten Adressen in Panama-City. Von seiner Suite im neunzehnten Stock aus hatte Thakur einen traumhaften Blick auf die Skyline der Stadt und den Yachthafen des Hotels. Das war für ihn aber zweitrangig. Das große Teleskop, das er in der Mitte seines Schlafraums aufgebaut hatte, war auf den Pazifik gerichtet, genauer gesagt auf die King Caetan VII, die weit draußen in der Flachwasserzone auf Reede lag.
Der Großsegler war vor fünf Tagen aus seinem nordchilenischen Heimathafen in Richtung Panama ausgelaufen. Thakur hatte schon Tage vorher das Computersystem der Hafenmeisterei gehackt und sofort von der Abreise erfahren.
Es war genug Zeit geblieben, sich von der Familie zu verabschieden. Die Air India hatte ihn nach Hawaii gebracht, von wo aus er mit der PanAm nach Los Angeles geflogen war. Natürlich war den Beamten bei den Sicherheitskontrollen das große Zeiss-Teleskop mit den Nachführmotoren aufgefallen; aber Thakur hatte sich als Hobbyastronom ausgegeben, der in den Anden ein paar Beobachtungen machen wollte. Das hatte die Leute zufriedengestellt.
Über Mexico war Thakur schließlich nach Panama gekommen und hatte sich am Ufer des Pazifiks im Miramar eingemietet. Dabei war es ihm weniger um den Luxus gegangen, den das Hotel bot, als vielmehr um ein Zimmer, das möglichst hoch lag. Die Suite in dem rechten der Doppeltürme war für seine Absichten perfekt. Hier hatte er das Meer direkt vor sich. Sofort hatte er das Teleskop in seinem Schlafzimmer aufgebaut und stündlich den Horizont nach der unverwechselbaren Silhouette der King Caetan VII abgesucht.
Vorgestern war der Großsegler am Horizont aufgetaucht und vor der Küste vor Anker gegangen. Sofort war ein kleineres Boot zu Wasser gelassen worden, das nacheinander verschiedene Yachten besucht hatte, die in die Kanalzone einliefen. Thakur hatte sich gefragt, was das bedeuten konnte, aber das hatte sich schon am Abend geklärt. Etliche der Motoryachten hatten den Schutz der Kanalmündung verlassen und sich näher an den Großsegler herangeschoben. Beiboote jeder Größe hatten Gruppen von Menschen auf die King Caetan gebracht.
„Natürlich! Eine Party“, hatte Thakur geflüstert und wie zur Bestätigung seiner Worte war auf dem Segler die Beleuchtung eingeschaltet worden. Bis in die Masten hinein war das ganze Schiff plötzlich ein Lichtermeer gewesen, und wer es noch nicht gewusst hatte, der war spätestens jetzt darauf aufmerksam geworden, dass hier etwas Besonderes lief. Sicherlich hatten sich auf diese Art noch ein paar Extragäste anlocken lassen. Spender von Lebenskraft für den unersättlichen Appetit des Königs und seiner Gefolgsleute.
Das Teleskop hatte Thakur in gnadenloser Deutlichkeit die Strategie der Darksider gezeigt. Sie schläferten die Aufmerksamkeit der Partygäste ein und nahmen sie hypnotisch unter ihren Zwang, bis sie alles mit sich machen ließen. Frauen hatten sich mit hochgeschobenen Sonnentops an die Körper von Darksidern gepresst, während sich ihre Männer innig von den Darksider-Frauen hatten umarmen lassen. Die Gäste hatten sich förmlich an die Gastgeber herangedrängt und ihre entrückten Gesichter waren in der Lust erglüht, die sie dabei empfanden.
Thakur hatte nur sehen können was an Deck geschah, aber er hatte sich vorstellen können, dass es auf dem ganzen Schiff so zuging. Plötzlich war eine wilde Wut in ihm aufgeflammt. Warum konnte er nicht einer von denen sein? Warum war er dazu verdammt, zu altern und zu sterben, während die sich immer wieder nach Belieben mit Lebenskraft voll pumpen konnten? Blass vor Zorn und Neid war er von dem Teleskop zurückgewichen und hatte sich auf das Bett gesetzt. Nur langsam hatte er sich wieder beruhigen können. Das Schicksal hatte ihn auf die andere Seite gestellt, da konnte man nichts machen. Man konnte nur Eines tun: Sie töten, wo immer man sie traf!
Das alles war am ersten Tag gewesen. Jetzt lag Caetans Schiff schon mehr als achtundvierzig Stunden auf Reede. Es schien so, als wenn es diese ergiebigen Jagdgründe nicht so schnell verlassen würde.
Am späten Nachmittag klopfte es an der Tür. Thakur legte die Tageszeitung beiseite, stand auf und öffnete.
Greta kam herein. „Izzy noch nicht da?“, fragte sie sofort. „Hallo Thakur.“
„Hallo Greta. Du bist schnell! Nein Izzy ist noch nicht hier. Von Tel Aviv kommt man nicht so einfach weg wie von Brüssel. Das alte Lied.“
„Wenn ich die ganze Zeit zurückbekäme, die ich schon auf Izzy gewartet habe, dann könnte ich glatt zwei Monate Urlaub machen“, meinte Greta.
„Wo wohnst du?“
„Im Decápolis, Zimmer 414.“
Thakur nickte zufrieden. So konnte man sie kaum in Verbindung bringen, falls jemand mal auf die Idee kommen sollte, sich die Buchungen der Hotels näher anzusehen.
In Paris hatten sich ihre Wege zunächst getrennt, und jeder von ihnen hatte ein paar Wochen in seinem Heimatland verbracht. Da man nie weiß, wer gerade die Telefon- und Datenleitungen überwacht, hatten sie in dieser Zeit keinerlei Kontakt miteinander gehabt. Vor zwei Tagen hatte Thakur dann unter dem Nickname „greyscale“ in einem bekannten Blog ein Bild des Miramar-Plaza gepostet. Das Bild hatte die Bezeichnung „panama-city-1932.jpg“ gehabt, was ein Hinweis auf Ort und Zimmernummer gewesen war. „Redcrab“ hatte mit einem Link zu dem Song „Leaving on a jetplane“ geantwortet und „swordfish“ blieb mit dem Link zu „give me a ticket for an aeroplane“ voll im Thema. Die Verständigung hatte gut geklappt. Zwei Tage nachdem Thakur die Nachricht gepostet hatte, saß Greta ihm schon gegenüber und wollte mehr über den Fortgang des Auftrags wissen.
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