07.05.13 Am Morgen in der U-Bahn
Ich habe gestern noch einmal zwei Schlaftabletten genommen und die Flasche Rotwein ausgetrunken. Als der Wecker am Morgen klingelt bin ich noch angezogen. Ich fühlte mich schmutzig und stand auf um zu duschen. Ich hatte die Nacht überstanden. Der Tag konnte nicht schrecklicher werden.
Heute steht am Vormittag eine Einzeltherapie auf dem Plan der Klinik. Es ist mir egal, was auf dem Plan steht. Ob einzeln oder in der Gruppe. Es ist alles eine sinnlose Quälerei.
07.05.13 Am Abend
Am Empfang werde ich für die Einzeltherapie eingeteilt und in ein kleines Zimmer geführt, und warte dort auf den Therapeuten oder die Therapeutin.
Nach einer längeren Wartezeit erscheint eine Ärztin, angetan mit dem weißen Kittel der Herrschaft über die kranken Seelen. Sie ist in meinem Alter und ich empfinde zumindest keine Abneigung gegen sie. Sie lächelte freundlich und setzte sich mir gegenüber, klappt ein Notizbuch auf und sagt: „Erzählen sie von sich, was immer sie wollen. Mich interessiert alles.“
„Wo soll ich anfangen.“
„Wo sie wollen, gerne mit den frühesten Erinnerungen an ihre Kindheit.“
Mir wird fast übel. Ich muss diese Geschichte, die ich schon zahllosen Ärzten erzählt habe wieder einmal erzählen. Ich beginne: „Als ich 12 Jahre alt war, hat sich meine Mutter aus dem zweiten Stock aus dem Fenster gestürzt. Sie ist auf den darunterliegenden Balkon gefallen. Sie war ein halbes Jahr im Krankenhaus und sie konnte ihren Beruf, als Sekretärin, nach dem Unfall, nur mehr eingeschränkt ausüben. Ein Jahr nach dem Unfall ließen sich meine Eltern scheiden. Ich entschied mich für meinen Vater als Erzieher. Mein Vater und ich lebten noch ein Jahr in einer abgetrennten Wohnung in dem Haus, indem auch meine Großeltern mütterlicherseits und meine Mutter lebten.
Danach zogen wir in ein neues Haus, das mein Vater inzwischen gebaut hatte.“
Die Ärztin schreibt eifrig mit. Dann schaut sie mich an und sagt: „Es ist eine Erinnerung die weh tut. Ich kann das an ihrer abweisenden Stimme hören, aber es könnte sein, dass es ihnen hilft, wenn sie über diese Erinnerung sprechen. Wir können ein andermal darauf zurückkommen, wenn wir uns besser kennen und sie sich stark genug fühlen über diese Erinnerungen zu sprechen.“
Ich ließ eine Minute wortlos verstreichen und fahre dann fort: „Ich kann darüber sprechen. Was mich quält ist, dass ich es schon so oft erzählt habe. Mir wird immer versprochen, es würde mir helfen über den Selbstmordversuch meiner Mutter zu sprechen. Es hilft mir nicht, es quält mich nur. Ich kann es noch hundertmal tun und es wird sich nichts an meiner Panik und an meinen Ängsten ändern.“
Die Ärztin schaut mir fest in die Augen und antwortet: „Wenn sie es aushalten, lassen sie es uns trotz der schlechten Erfolgsaussichten tun. Ich kann sie besser verstehen und ich kann ihnen dann auch eher helfen. Welche Bilder fallen ihnen ein, wenn sie an den Tag denken, an dem Ihre Mutter aus dem Fenster gesprungen ist.“
Ich schweige lange und lasse die Bilder in mir aufsteigen, die mich an diesen Tag erinnern. Es ist ein Film den ich tausendmal gesehen habe. Erst als der Film abgelaufen ist fange ich an zu sprechen: „Ich lag in meinem Zimmer, neben dem meiner Mutter. Ich hörte einen Schrei. Es war ein fürchterlicher Schrei. Meine Großmutter war es die schrie. Ich stieg aus dem Bett und öffnete die Tür und ging zur Treppe. Meine Großmutter raste im Stockwerk darunter herum, dann hörte ich sie aufgeregt telefonieren. Ich öffnete die Tür zum Zimmer meiner Mutter, es war leer und das Fenster stand offen. Das offene Fenster machte mir entsetzliche Angst.
Ich starrte es an. Es war wie ein Schlund der mich anzog und verschlingen wollte. Ich hörte eine Sirene, die immer näherkam und vor unserem Haus verstummte. Dann waren laute Stimmen zu hören. Langsam, wie unter Hypnose, näherte ich mich dem Fenster. Als ich vor dem Fenster stand kam meine Großmutter die Treppe hinauf gestürmt und riss mich vom Fenster weg und warf mich auf mein Bett und schrie dabei: „Du bleibst in deinem Zimmer. Ich schlag dich grün und blau, wenn du noch einmal herauskommst.“
Kurz darauf ging durchdringend die Sirene wieder an und wurde dann immer leiser und verstummte.
Eine bleierne Stille breitete sich aus.
Etwas später kam meine Großmutter setzte sich an mein Bett und nahm meine Hand. Sie war eine harte Frau. Ihr Mann war traumatisiert aus dem Krieg heimgekehrt. In manchen Nächten kam entsetzliches Gebrüll aus der Wohnung der Großeltern. Großmutter zog nach solchen Nächten, ihr Kopftuch tief ins Gesicht. Ich hatte sie nie weinen gesehen. Jetzt saß sie auf meinem Bett, ihr Körper bebte in unregelmäßigen Abständen und sie schnappte dann nach Luft. Ich zog sie in mein Bett. Als ich meine Wange an ihre legte spürte ich ihre Tränen.
Später kam mein Vater, er war mit dem Krankenwagen in die Klinik gefahren. Er löste die Großmutter ab, aber er legte sich nicht zu mir. Er saß im Dunkeln in einem Sessel und seufzte von Zeit zu Zeit gequält auf. Ich wünschte mir sehr, dass er sich auch zu mir legt. Er tat es nicht. Niemand erklärte mir was geschehen war. Auch später nicht. Als meine Mutter, ein halbes Jahr später, wieder zurückkam, wagte ich es nicht sie zu fragen. Sie war zudem stark verändert. Sie starrte ständig ängstlich und wie erstarrt vor sich hin. Sie wich meinem Blick aus. Sie schien sich vor mir zu schämen. Sie versuchte nicht mich zu umarmen und sie zog mich nicht mehr, wie früher, auf ihren Schoß.“
Als ich meinen Bericht beendete überkam mich ein peinliches Selbstmitleid mit dieser Göre, die ich einmal war, und mir traten Tränen in die Augen.
Die Ärztin tat so, als würde sie das nicht bemerken und schaute an mir vorbei, als sie ihrerseits zu sprechen begann: „Danke für ihren Bericht. Sie können anschaulich erzählen. Ich bin sehr bewegt und ich wünsche mir sehr, ihnen zu helfen. Lassen sie uns für heute Schluss machen. Ich habe in ihrer Tasche Zigaretten gesehen. Gehen wir vor die Tür. Ich rauche eine mit.“
Wir treten auf die Straße vor der Klinik unter einen Baum und ich biete meine Zigaretten an. Als wir zu rauchen beginnen treten zwei Männer in weißen Kitteln heraus, zünden sich umständlich ihre Zigarren an und gehen dann grüßend und mit zufriedener Miene an uns vorbei.
„Das sind meine Chefs“, bemerkt die Ärztin.
Sie erzählt, dass sie eine alleinerziehende Mutter mit einem vier Jahre alten Sohn ist und dass es für sie schwer ist Beruf und Mutterschaft in Einklang zu bringen. Sie müsse, wie alle Ärzte hier, auch Schichtdienst machen und in ihren Leben gäbe es deshalb häufig Chaos. Sie schlägt vor, beim Sie zu bleiben, uns aber mit unseren Vornamen anzusprechen. Sie heißt Sabine. Mit vollem Namen Dr. Sabine Cohen. Sie erzählt auch, dass sie aus einer jüdischen Familie stammt.
Ich habe noch nie mit einer Jüdin gesprochen und werde ganz verschüchtert. Was mein Großvater im Krieg getan hat war ein Geheimnis in meiner Familie. Es war sicher nichts Gutes gewesen.
Aus purer Verlegenheit, nur um das Schweigen zu brechen, frage ich, ob es in ihrer Familie Opfer des Naziregimes gegeben hat. Als sie leichthin sagte: “Ja meine beiden Großeltern sind in Ausschwitz umgekommen“, bekomme ich feuchte Hände und das Blut steigt mir in den Kopf.
Sabine verabschiedet sich mit dem Hinweis, dass wir uns in zwei Tagen zu einem weiteren Einzelgespräch treffen.
08.05.13
Heute fand eine Gruppentherapie statt. Wir wurden aufgefordert zu erzählen welche Umstände wir als Verursacher für unser Burnout Erkrankung ansehen.
Stress am Arbeitsplatz ist die Hauptursache. Der Rettungssanitäter erzählte von einem Einsatz, der bei ihm einen Alptraum ausgelöst hat, den er immer wieder träumt und nicht loswerden kann. Er war zu einem Unfall gerufen worden. Am Unfallort lag ein Motorradfahrer mitten in der Straße. Autos fuhren vorsichtig um ihn herum. Eltern hielten ihren neugierigen Kindern die Augen zu. Niemand hielt an. Dieses Bild der Autos, die um den Motorradfahrer herumfahren, quält den Rettungssanitäter in den Nächten. Ich kann das gut nachvollziehen. Quälende Bilder in meinen Träumen habe ich genug. Oft auch Bilder, bei denen nicht klar ist, warum sie so unheimlich und quälend wirken.
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