Plötzlich riss James ihn aus den Gedanken. „Was meinst du, Jason, sollten wir eine Wiedergutmachungsparty am Pier steigen lassen? Mit freien Getränken für die ersten fünfzig Leute oder so?“
„Sicher. Coole Idee, Jamie. Hast du so viel Kohle? Oder pumpst du deinen Alten an?“
„Da geht sicher was. Also, ja oder nein? Die Saison muss jedenfalls gerettet werden.“
Darin war James erste Sahne! Vielleicht hatte er ja eine geniale Idee auf Lager, wie er die Rothaarige wieder besänftigen konnte.
„Klar, Mann! Du planst das schon. Sag mir, wenn es soweit ist. Aber gib meinem Zinken ein paar Tage, um zu heilen.“
Kriemhild
Die Sonne ging über der Buzzards Bay unter. Kriemhild lief am Strand entlang, begleitet von Margrets Geschichte. Fast sah sie, wie Sues kleine Fußspuren sich neben ihren in den weichen Sand schmiegten. Konnte es Schlimmeres geben, als das eigene Baby sterben zu sehen?
Ihre Wehmut wandelte sich in Sehnsucht, als sie sich dabei ertappte, wie sie immer wieder zu den Dünen hinüber blickte. Vor allem zu der Stelle, an der Samuel sonst saß. Zu ihrer Enttäuschung hielt er sein Versprechen, dass sie ihn nie wiedersehen würde, nachdem sie ihm in der Sache mit seinem Vater beigestanden hatte. Sam blieb ihr ein einziges Rätsel. Sie rief sich die Szene mit Amy in Erinnerung. Seine Schwester hatte sich ihr an dem Tag weder vorgestellt, noch irgendwas gesagt. Oder litt Sushi-Sam an Verfolgungswahn? Ein zweiter Justus?
„Hallo, Kate!“
Kriemhild fuhr herum. Jemand rannte auf sie zu. Barfuß – wie sie selbst. Im Dämmerlicht erkannte sie Brooke.
„Hi!“ Kriemhild hieß die Ablenkung willkommen.
„Wie geht es dir? Oh mein Gott, tut es gut, dich leibhaftig und lebendig wiederzusehen! Obschon ich ja zugeben muss, dass ich auf der Party am Pier mächtig eifersüchtig war und mir vielleicht für den Bruchteil einer Sekunde gewünscht habe, du wärest tot, nur damit ich auch eine Chance bei den Jungs hätte. Verzeih mir, ich weiß, ich bin ein Esel!“
„Was tust du um diese Zeit am Strand, Brooke?”
„Ich hatte gehofft, dich hier zu treffen, um ehrlich zu sein. Ich musste den ganzen Tag in der Pension meiner Eltern aushelfen. Erwähnte ich schon, dass Ferien sind? Jedenfalls habe ich mich eben aus dem Staub gemacht. Ich musste dich unbedingt sprechen. Bitte verzeih mir, dass ich dich mit Jason allein gelassen habe. Es war falsch. Ich hätte mir denken können, was er vorhat. Bitte, vergibst du mir?“
Brooke hatte denselben bettelnden Blick wie Jacob bei Tisch. Kriemhild musste lachen und fiel ihr in die Arme.
„Oh, das heißt ja, hab ich Recht? Ja, du vergibst mir? Das ist gut, dann habe ich meine Freundin also nicht verloren.“
„Sei nicht immer so melodramatisch, Brooke! Natürlich war es nicht deine Schuld, was passiert ist. Sag mal, hast du Lust, morgen mit meinem Onkel, meiner Tante und mir rüber nach Martha’s Vineyard zu fahren? Sie wollen mir die Gegend zeigen.“
„Was? Ehrlich? Selbstverständlich komme ich mit! Danke für die Einladung. Das wird ein Tag, den du so schnell nicht vergessen wirst, glaub mir. Und jetzt will ich wissen, wie das mit Sushi-Sam war, als er dich aus dem Meer gerettet hat. Alles. Und vergiss ja die kleinen Details nicht. Zur richtigen Zeit am richtigen Ort. Oh, das ist ja wie im Film! Irgendwie romantisch, findest du nicht?“
Kriemhild schmunzelte.
„Nun ja, es war … essentiell. Was soll ich sagen? Ohne ihn wäre ich wohl nicht mehr hier.“
„ Essentiell ? So nennst du es? Wie hast du ihm gedankt?“
„Tja, so richtig eigentlich noch nicht. Wie dankt man denn jemandem, der einem das Leben gerettet hat? Das ist schließlich kein alltäglicher Zustand.“
„Richtig. Ich habe keinen Schimmer. Vielleicht solltest du ihn heiraten. So ist es meistens im Film.“
„Danke, Brooke. Diesen Rat werde ich mir nicht zu Herzen nehmen. So, wie er sich mir gegenüber verhält, wäre es eher eine Strafe für ihn als ein Dank.“
Es wurde dunkler. Ein wunderschöner Mond ging auf und warf einen silbrigen Schein über die Wellen.
„Kate, ich muss heim. Wir sehen uns morgen. Danke, dass ihr mich mitnehmen wollt. Du wirst den Vineyard lieben!“
„Da bin ich mir sicher. Mach’s gut!“
Der nächste Tag begann früh. John wollte die Fähre um neun nehmen. Kriemhild hatte ziemlich schlecht geschlafen und zweifelte an der Idee, das Eiland zu besuchen. Einmal mehr lief der schreckliche Film vor ihren Augen ab. Sie bekam Schweißausbrüche und ihr Herz raste wie verrückt. Um sich zu beruhigen, schloss sie die Augen und atmete tief durch.
Das Erlebnis vom Pier hatte neues Öl auf ein altes Feuer gegossen. Es hätte nicht viel gefehlt und sie wäre ertrunken. Wenn Sam nicht … Samuel . Kriemhild lief ans Fenster und schaute in die Dünen. Er war nicht da. War es die Tatsache seiner Abwesenheit, die ihr den rastlosen, inneren Schmerz einpflanzte?
„Kriemhild, bist du wach?“ Jemand klopfte an ihre Tür. Schnell schob sie den Gedanken an Sam beiseite.
„Ja, Onkel John, ich komme gleich.“
Ein schmaler Streifen am Horizont – Martha’s Vineyard – lag höhnisch im Ozean. Fünfunddreißig Minuten auf einer Fähre! Ein halbes Leben für ein Trauma. Tante Margret trat lautlos herein und legte ihr die Hand auf die Schulter.
„Wie geht es dir, Kind?“
„Es geht. Danke.“ Kriemhilds Blick ruhte auf der Landzunge im Meer.
„Hatten wir uns nicht darauf geeinigt, dass wir beide schlechte Lügner sind?“
„Du hast Recht, Tante. Um ehrlich zu sein, wenn ich an die Fähre denke kommen alle Erinnerungen an damals hoch. Vielleicht sollte ich besser hierbleiben.“
Margret lächelte und strich ihr über den Kopf.
„Willst du dich nicht endlich einmal deinen Ängsten stellen? Es ist so lange her und du hattest keine Schuld an dem, was passiert ist. Dein Vater würde wollen, dass du wieder hinausfährst. Er hat das Meer so geliebt.“
„Ja, das hat er. Er hat es so geliebt, dass er vergaß, wie unberechenbar es ist.“
Eine Träne trat in ihre Augen. Leise wischte sie sie fort.
„Komm, Kriemhild. Ich koche dir einen Beruhigungstee und dann fahrt ihr gemeinsam rüber. Glaub mir, es wird dir drüben auf der Insel gefallen. Und deine Freundin ist schließlich auch dabei.“
Die Island Queen lag schaukelnd im Hafen. Jeder Schritt, der sie ihr näher brachte, beschleunigte Kriemhilds Herzschlag. Onkel John besorgte die Fahrkarten und Brooke bemühte sich, ihr Wortpensum für den Tag einzuhalten. Zum ersten Mal war Kriemhild ihr sogar dankbar dafür.
„Hab ich schon gesagt, wie nett es ist, dass ihr mich mitnehmt? Nicht, dass ich noch nie zuvor auf dem Vineyard war, aber man sieht jedes Mal neue aufregende Dinge und fragt sich dann verblüfft: Waren die letztes Mal auch schon da? Ist es nicht herrliches Wetter? Schon richtig warm. Ich freu mich auf den Sommer! Wo ist eigentlich deine Tante? Wollte sie nicht mitkommen?“
Kriemhild nickte, ohne das feindselig wirkende Boot aus den Augen zu lassen.
„Sie ist daheimgeblieben, um eine kranke Freundin zu besuchen.“
„Ah, da vorne kommt dein Onkel. Los, wir gehen aufs Schiff. Zum Glück sind nicht allzu viele Touristen hier. Apropos Touristen. Gestern sind fünf Engländer angereist. Trockene Leute, sag ich dir. Eigentlich hätte ich in der Pension aushelfen müssen, aber ich habe meinen Eltern von deiner Einladung erzählt und betont, wie unhöflich es wäre, sie abzulehnen.“
Die Hälfte ihrer Worte prallte einfach an Kriemhild ab. Ihre zitternden Hände ballten sich zu Fäusten. Alles in ihr schrie nach Flucht.
„Bist du okay? Du siehst irgendwie blass aus.“ Brooke legte ihr den Arm um die Schulter und musterte die panischen Züge.
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