„Justus. Es war Justus. Er hat mir gedroht.“ Kriemhilds Stimme war nur ein Flüstern. „Er hat Sara gezwungen, hier anzurufen und … er hat mir gedroht.“
„Komm her, alles ist gut. Es war nur ein Anruf, weiter nichts. Er kann dir nichts tun, Liebes.“ Margret nahm sie in die Arme und strich ihr über die Haare.
Margarethe
„Sie ist endlich eingeschlafen“, sagte sie und stellte sich zu John ans Fenster, nachdem sie die Treppe hinuntergekommen war. Das Telefonat hatte das arme Mädchen völlig verunsichert. Fassungslos schüttelte Margret den Kopf. „Ich hätte nicht für möglich gehalten, dass er es fertigbringt und hier anruft.“
„Nein, mein Herz, das hätte ich auch nicht.“ Ihr Mann schaute in die dämmrige Dünenlandschaft. „Vielleicht sollten wir Elisabeth benachrichtigen?“
„Sinnlos, John. Soweit ich weiß, verfügt dieser Justus über eine polizeiliche Auflage, die ihm untersagt, sich ihr zu nähern. Von Telefonaten steht da sicher nichts drin. Und Betty würde sich nur unnötige Sorgen machen.“
Er nickte und atmete hörbar aus. Mit dem Kinn deutete er hinaus in die Sandberge.
„Ist dir aufgefallen, dass dieser Dawson-Junge sich lange nicht auf seinem Platz blicken lassen hat?“
„Was willst du damit sagen?“, fragte Margret irritiert.
„Keine Ahnung, ob es was zu bedeuten hat. Ich habe mich gerade nur gefragt, ob es was mit Kriemhild zu tun haben könnte.“
„Mit Kriemhild? Du meinst …?“
„Ich meine gar nichts. Nur so ein Gedanke. Übrigens habe ich heute Morgen deine Freundin Catherine auf dem Fischmarkt getroffen. Sie erfreut sich bester Gesundheit und lässt dich schön grüßen.“
Margret errötete und schaute zu Boden. John hob ihr Kinn an und schmunzelte.
„Willst du mir nicht sagen, wo du heute warst, mein unverbesserliches Herz?“
„Ich habe Kriemhild die Geschichte von unsrer kleinen Sue erzählt. Allerdings nicht, dass es der Vineyard war, wo sie geboren wurde.“ Margret hatte die Insel seit der Geburt nie wieder betreten. „Verzeih mir die kleine Flunkerei. Ich wollte sie nicht noch mehr mit der Sache belasten. Sie hat es sich ohnehin sehr zu Herzen genommen.“
„Und wo warst du nun?“
„Ich habe tatsächlich einen Krankenbesuch gemacht. Ich war bei Pastor Jonas. Er ist letzten Monat fünfundneunzig geworden und es steht schlecht um sein Herz. Erinnerst du dich, er war damals immer für uns da. Sue war seine erste Beerdigung in der neuen Gemeinde. Er hat sich für die Umbettung eingesetzt, als wir dieses Haus kauften. Das werde ich nie vergessen. Ich hoffe, er findet bald seinen Frieden und muss nicht lange leiden. Das hat er nicht verdient.“
Justus
Einige Monate zuvor.
Es geschah auf der Vorabiparty. Er wusste es einfach; nie zuvor in seinem Leben war er sich einer Sache sicherer gewesen. Kriemhild liebte ihn. Und weil ihre Gefühle so machtvoll waren, wusste sie nicht, wie sie sie kontrollieren, geschweige denn äußern sollte.
Den ganzen Abend über stand sie mit Sara und den anderen Mädels an der Tanzfläche. Immer wieder trafen ihre Blicke auf ihn, schüchterne Blicke. Er lächelte zurück, sie kicherte. Ihr Anblick ließ sein Herz höherschlagen. An jenem Abend sah sie besonders entzückend aus. Der kurze Rock, das schwarze, enganliegende Oberteil, die roten Haare zu zwei langen Zöpfen geflochten. Er konnte seine Augen nicht von ihr lassen. Immer wieder musste er an ihre erste Begegnung zurückdenken, als sie ihn vor der Klasse gerettet hatte.
Langsam schob er sich durch die tanzende Menge zu ihr, das Bierglas in der Hand, um sich Mut anzutrinken. Er wollte stark sein, für sie. Damit sie sich endlich ihre Gefühle eingestand. Noch am selben Abend würde er ihr sagen, dass er ihre Liebe erwiderte.
„Hallo, Mädels.“ Er ging in die Offensive.
Sie drehten sich kichernd weg. Kriemhild hatte ihre Freundinnen vermutlich eingeweiht. Sie alle wollten die Romanze hautnah miterleben.
„Hast du Lust mit mir zu tanzen, Kriemhild?“, fragte er geradeheraus.
Sie flüsterte Sara etwas zu, sicher ein süßes Geheimnis. Dann nickte sie und folgte seiner Aufforderung. Sara rollte mit den Augen. Doch das interessierte ihn nicht. Er sah nur sie. Kriemhild hatte seinen Tanz angenommen und das machte ihn zum glücklichsten Menschen auf der ganzen Party.
Erst tanzten sie weit auseinander, jeder für sich. Dann ging er näher ran, drücke sie unwillkürlich in die Menge, bis sie so nah an seinem Körper tanzte, dass er ihren Atem auf seiner Haut spürte. Sie hatte schon etwas getrunken; ihr Blick war glasig. Er sah sie an und bewunderte, wie ihr perfekter Körper sich zur Musik bewegte. Justus legte seine Arme um ihre Taille. Sie schob ihn weg; vermutlich ging ihr das zu schnell. Er lächelte und flüsterte in ihr Ohr. „Verstehe, Schätzchen.“
Sie rief ein lautes „Was?“ in die dröhnende Musik. Seine Kopfbewegung lud sie ein, ihm zu folgen. Draußen vor der Halle wären sie ungestört.
Es war eine sternklare Nacht. Silbriges Licht legte sich wie ein Schleier auf Kriemhilds blasse Haut. Wenn er sie erst geküsst hätte, würde sie das Feuer seiner Liebe verstehen. Er würde ihre Zurückhaltung keinen Tag länger ertragen.
„Puh, da drinnen tanzt der Bär!“ Sie lachte. Er stellte sich direkt vor sie und schob sie gegen die Betonwand der Halle. Ihr Geruch betörte ihn.
„Was willst du, Justus? Was soll das hier?“
Wieder suchten seine Hände nach ihrer Taille.
„Warum quälst du mich, Kriemhild?“, fragte er und seine Augen brannten. „Es ist an der Zeit, mit den Spielchen aufzuhören, Schätzchen. Meinst du nicht auch?“
Sie versuchte, seine Hände fortzuschieben, doch er ließ es nicht zu. Sie tat das, um sicherzugehen, dass er sie wirklich fest im Arm hielt. Justus wusste, wie sie tickte.
„Ich habe keine Ahnung, wovon du sprichst! Und jetzt nimm deine Hände da weg, Justus!“
„Nein, ich halte dich. Glaub es ruhig. Du hast es verdient, dass ich dir meine Liebe gestehe. Hab keine Angst. Ich weiß doch längst, was du fühlst.“
Er kam näher, drückte seinen Körper gegen ihren und küsste ihren Hals. Sie stieß ihn zurück.
„ Bist du bescheuert? Lass mich los!“
„Komm schon! Gib endlich zu, dass du mich liebst! Ich werde dich vor deinen Freundinnen nicht blamieren, versprochen.“
Er nahm ihren Kopf in seine Hände und küsste ihre Wangen, die weichen Lippen. Daraufhin trat sie mit voller Wucht gegen sein Schienbein. Ihre Leidenschaft entflammte ihn noch stärker. Als er nicht von ihr abließ, biss Kriemhild ihm auf die Lippe. Das war zu viel!
„Autsch!“, schrie er und wich einen Schritt zurück.
„Bist du total durch geknallt, Justus?“ Ihre Augen blitzten wütend. „Was soll der Mist? Mach das nie wieder, verstanden?“
Sie fuhr sich angeekelt mit dem Handrücken über den Mund. Kriemhild wollte an ihm vorbei, zurück in die Halle, doch er hielt sie am Arm fest.
„ Du hast mich gebissen !“ „Und? Du hast mich geküsst! Jetzt lass mich los, oder ich schreie.“
Er stieß sie zurück an die Hallenwand. Sie schlug um sich, doch er war stärker.
„Du wirst mich nie wieder beißen, verstanden? Das tut man nicht, wenn man sich liebt.“
„ Ich liebe dich aber nicht! “
Ihre Worte verhallten ungehört im Wind. Er weigerte sich, sie zu hören, oder ihnen zu glauben. Vielleicht war Frank hinter ihr her? Vielleicht drohte er ihr, sich nicht auf Justus einzulassen? Wie schrecklich! Voller Zärtlichkeit strich er eine Haarsträhne aus ihrer Stirn. Ihre roten Haare hatten sich in seinen Kopf gebrannt.
„Ruhig, mein Schätzchen. Ich tu dir nichts. Was auch immer Frank gesagt hat, glaub ihm nicht. Er kann uns nichts verbieten.“
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