„Geht schon. Mir wird nur immer übel auf dem Wasser.“
„Seekrank, verstehe. Dazu kenne ich auch eine Story.“
Sie erzählte von einer High-School-Bekanntschaft, die sich ständig übergeben hatte, als sie mit einer Fähre unterwegs waren. Genau das, was man in so einer Situation hören wollte. Onkel John lächelte mitfühlend, nahm Kriemhilds Hand und half ihr die schmale Treppe hinauf. Jeder Mann mittleren Alters hatte das Aussehen ihres Vaters. Mit ratternden Motoren setzte sich das Schiff in Bewegung. Jeder Schlag der Schraube traf Kriemhilds Magengrube und all ihre Glieder erstarrten.
Sie verließen den Hafen von Falmouth. Kurz darauf begann eines der Crewmitglieder mit der Durchsage von Informationen über die Insel.
„Das ist nicht so wichtig“, meinte Brooke. „Ich kann dir nachher die wirklich interessanten Dinge erzählen, von denen dieser Fuzzi sicher keinen Schimmer hat. Wusstest du zum Beispiel, dass drüben Der weiße Hai und eine Folge der Gilmore Girls gedreht wurden? Oh, ich liebe die Gilmore Girls ! Übrigens: Die Insel verdankt ihren Namen ihrem Entdecker. Er ging 1602 an Land und fand so viel wilden Wein vor, dass er sie gleich seiner Tochter Martha widmete. Wer weiß, vielleicht war Martha ja eine kleine Schnapsdrossel?“
Brooke kicherte spitzbübisch, bevor sie fortfuhr: „Tja, was gibt es noch zu erzählen? Letzten Sommer waren die Obamas hier. Sie mieteten sich ein zwölf Hektar großes Grundstück, dessen Kosten bei etwa 50 000 Dollar pro Woche lagen. Ist das nicht wahnsinnig viel Geld?“
Onkel John lachte leise. Scheinbar dachte er nicht mal daran, Brooke zu widersprechen.
Die Fähre überquerte das Wasser – dank Brookes Geplapper – ohne, dass Kriemhild ihre Ängste richtig ausleben konnte. Trotzdem wagte sie keinen Blick hinab in die Flut. Dort hätte sie vermutlich nichts weiter gesehen als das sterbende Gesicht ihres Vaters.
„Schau mal, dort drüben ist schon Vineyard Haven Harbour.“
Sie folgte Brookes Fingerzeig und fand einen kleinen weißen Leuchtturm, umgeben von rotgedeckten Häuschen. Erleichtert atmete sie auf. Ein idyllischer Anblick.
Die Island Queen ratterte durch eine kleine Bucht, rechts und links von ihr weiße Sandstrände, auf denen die typischen Häuser standen. Die weißen Sprossenfenster blickten sehnsüchtig aufs Meer hinaus, als warteten sie auf die Rückkehr verschollener Seefahrer. Sie hatten die Fahrt überstanden!
Im Hafen selbst lagen unzählige Segelboote und kleine Yachten vor Anker, die Kriemhild allesamt an ihren Vater erinnerten. Nie wieder , hatte sie sich geschworen. Ein Seufzer entfuhr ihren Lippen.
„Siehst du, du hast es überlebt. Er wäre stolz auf dich, was ich übrigens auch bin.“ Onkel John lächelte, was seine Falten noch freundlicher erscheinen ließ.
„Ja, vielleicht wäre er das“, gab Kriemhild zurück. „Danke.“
Es gab so viel zu berichten, als sie am Nachmittag voller Eindrücke zurückkehrten. Margret hörte geduldig zu. Ihre Tante hatte ihnen einen wunderbaren Picknickkorb mitgegeben. Obwohl die vielen Dinge darin vorzüglich geschmeckt hatten, hatten John und Brooke Kriemhild in Oaks Bluff zum Hummeressen eingeladen, nachdem sie unzählige, malerische Orte des Eilands aufgesucht hatten.
„Vielen Dank, Onkel John! Ihr habt mir einen wunderschönen Tag bereitet. Die kitschig bunten Methodistenhäuser … All diese herrlichen Wälder und wilden Strände! Schade, dass du nicht mitgekommen bist, Tante.“
John lächelte. „Es freut mich, dass es dir so gut gefallen hat. Das wurde auch mal Zeit, nach allem, was du hier bisher erlebt hast.“
„Ich bin stolz auf dich, Kriemhild.“ Margret tätschelte ihr die Wangen. „Heute Morgen hatte ich einen Moment lang meine Zweifel, ob du tatsächlich auf diese Fähre steigst. Auch mein Tag war schön. Wisst ihr, Catherine hat sich sehr über meinen Besuch gefreut. Hat der Picknickkorb geschmeckt?“
„Was für eine Frage, Tante! Du bist einfach unschlagbar. Fast wie Brookes Mundwerk!“
Das Klingeln des Telefons unterbrach ihr Gespräch und Margret blickte auf.
„John, würdest du bitte rangehen? Es schellt schon wieder.“
Er nickte und erhob sich, bevor Tante Margret fortfuhr. „Das Mundwerk hat die Delaware von ihrer Mutter, wenn du mich fragst. Ich wette, sie hat dich gut abgelenkt, was die Überfahrt angeht, Liebes.“
„Oh ja! Dank ihrem Geplapper ging alles recht schnell und schmerzlos.“
„Kriemhild?“, rief John aus dem Flur. „Hier ist ein Gespräch für dich, aus Deutschland.”
„Für mich ? Ist es etwa Ma?“ Sie sprang aus dem Sessel und lief zu ihm hinüber. „Nein. Wenn ich es richtig verstanden habe, eine Sara.“ Voller Freude riss sie ihm den Hörer aus den Händen.
„Sara! Schön, dass du anrufst!”
„Hi, Kriemhild! Ich wollte mich für die Postkarte bedanken.“ Die Stimme ihrer besten Freundin klang so nah und so vertraut.
„Oh, ist sie schon angekommen? Wie geht es dir, Sara? Schade, dass du nicht hier sein kannst. Du würdest es lieben! Stell dir vor, wir haben den Tag auf Martha’s Vineyard verbracht!“
„Hör zu, Kriemhild …“ Etwas Bedrückendes lag in ihren Worten. „Hier ist jemand, der dich sprechen will. Es … es tut mir leid. Ich wollte das alles nicht aber … er hat gedroht, diese Sache mit Martin vor meinen Eltern auffliegen zu lassen, du weißt schon … Sorry, Süße.“
Ein plötzlich auftretendes Zittern schüttelte den Telefonhörer. Die Freude über Saras Anruf verwandelte sich in einen beklemmenden Schmerz, der Kriemhild die Luft abschnürte.
„Bitte, rede mit ihm, hörst du? Er besteht darauf“, flehte Sara.
Martin ! Wieso hatte sie auch mit ihrem Lehrer geknutscht und sich dabei von Justus erwischen lassen? Es folgte ein Rascheln in der Leitung, dann hörte Kriemhild Justus’ Atem ganz dicht an ihrem Ohr. Er klang erregt. Der reinste Albtraum. Sie stand dort wie gelähmt und das Blut gefror in ihren Adern.
„Hallo, Schätzchen“, flüsterte er. „Wieso reagierst du nicht auf meine Kurzmitteilungen? Hast du dein Handy nicht dabei?“
„Hallo, Justus.“ Sie bemühte sich, die Angst in ihrer Stimme zu unterdrücken. „Ich habe … mein Handy ist verloren gegangen.“
„Oh, das tut mir leid. Wo steckst du? Ich muss unbedingt mit dir reden. Ist es wahr, dass du in den Staaten bist?“
Er kontrollierte sie noch immer. Es war sinnlos, zu lügen.
„Ich besuche meine Verwandten. Was willst du, Justus? Ich wüsste nicht, was es zwischen uns zu sagen gibt.“
Er lachte leise. Das grausame, irre Lachen überzog Kriemhilds Arme mit einer Gänsehaut.
„Jetzt bist du mutig, weil du weit genug von mir weg bist“, flüsterte er. „Weißt du, ich vermisse dich. Deinen Geruch, deine Augen, deine weiche Stimme. Was machen die Jungs so in Boston? Pass auf, dass dich niemand anfasst, sonst bekommt er es mit mir zu tun. Ich hoffe, du weißt das.“
Ihre Hand zitterte so stark, dass sie Mühe hatte, den Hörer nicht fallen zu lassen.
„ Lass mich in Ruhe! Kapiert? Es geht dich einen Dreck an, mit wem ich mich treffe! Wir sind nicht zusammen! Um genau zu sein, waren wir es nie! Also ruf mich nie wieder an und vor allem: Lass Sara in Frieden! Sie hat mit der Sache nichts zu tun.“
„Ja, die kleine, unschuldige Sara. Vergiss mich nicht, Kriemhild. Du kannst dich nicht ewig vor mir verstecken. Ich weiß, dass du mich liebst. Du liebst mich und deine Spielchen treiben mich langsam in den Wahnsinn. Lass mich nicht zu lange warten, Schätzchen.“
Ein letztes begehrendes Schnaufen, dann das Hupen in der Leitung. Kriemhilds Knie gaben nach und sie folgte dem Hörer auf den Boden.
„Um Himmels Willen! Was ist denn hier passiert?“ Margret stürzte in den Flur.
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