„Witzig, Dad. Wirklich. Wenn ich Zeit habe, werde ich drüber lachen.”
„Im Ernst. Muss ich mir Sorgen machen? Das mit diesem Mädchen hat keine Zukunft. Siehst du nicht, wo das Problem liegt? Du in Harvard, sie in Deutschland. Wie soll das gehen? Mal angenommen, du kannst vor ihr verbergen, was du wirklich bist. Willst du ihr all die Jahre etwas vormachen, um sie dann zu verlassen? Still und heimlich?“ Er legte seine Hand auf Sams Knie. „Ich kann sehr gut nachempfinden, was da passiert ist. Dieses Mädchen ist außergewöhnlich. Nicht nur ihr Äußeres. Sie scheint extrem empfänglich für mentale Dinge zu sein. So einen feinfühligen Menschen habe ich bisher nicht kennengelernt. Aber, Samuel, sie ist keine von uns . In unserem Volk gibt es unzählige hübsche Mädchen, die sich glücklich schätzen würden, dich eines Tages als Mann an ihrer Seite zu haben. Ich ermahne dich, keine Bindung mit ihr einzugehen, hast du das begriffen?“
Tom wusste, dass sein Sohn ihn stets als guten Berater geschätzt hatte. Doch in den vergangenen Monaten hatte Samuel sich immer weiter von ihm entfernt. Was jedoch die aktuelle Angelegenheit betraf, würde Tom ganz sicher nicht nachgeben. Dazu war die Sache einfach viel zu brisant.
„Es ist alles gut, Dad. Keine Sorge.“ Sams Stimme klang besänftigend. „Ich hab das im Griff. Gib mir einen Tag und ich habe sie vergessen. Bitte, halte den Marianen da raus, ja? Er liegt mir sehr am Herzen. Ich will ihn nicht enttäuschen. Vor allem will ich Amys Hochzeit nicht unnötig gefährden.“
Tom klopfte Samuel auf die Schulter. Für den Moment musste er darauf vertrauen, dass er die Wahrheit gesagt hatte. „So kenne ich meinen Sohn. Jetzt ist er wieder der Alte.“
Er leerte sein Glas, stellte es ab und schaute auf die Uhr.
„Ich muss los, Sam. Wir sehen uns heute Abend.“
Margarethe
Währenddessen saß Margret in ihrem Lehnstuhl. Jacob lag treu an ihrer Seite und ließ sich wohlgefällig hinter den Ohren kraulen. Ihr Blick ging in die Weite und ruhte irgendwo draußen am Horizont.
„Geht es dir gut, mein Herz?“
„Ja, John, ich danke dir.“
„Du solltest endlich damit abschließen. Wie lange willst du dich noch quälen? Das alles ist doch fünfzig Jahre her.“
Sie versuchte zu lächeln. „Für dich vielleicht. Wenn ich Kriemhild anschaue, dann kommt es mir vor, als sei die Zeit zurückgelaufen.“
„Hat der Brief dir nicht geholfen?“
„Vielleicht. Frag mich das in ein paar Wochen nochmal. Hast du die Blumen am Grab auch gegossen? Heute ist es ziemlich warm, findest du nicht?“
Seine Blicke überhäuften sie mit Liebe. John legte seine Hand auf ihr Knie.
„Natürlich habe ich sie gegossen. Wie jeden Tag.“
Jemand kam durch die Haustür. Jacob stellte die Ohren auf und ließ ein leises Bellen hören. Margret blickte auf die Uhr. Es war nach vier. „Kriemhild? Bist du es?“
„Ja, Tante, ich bin zurück.“
„Komm doch einen Moment zu uns.“
John erhob sich und küsste Margrets Stirn.
„Ich muss den Wagen in die Werkstatt bringen. Seit Tagen klappert der Auspuff.“
Er begrüßte Kriemhild und verschwand über die Veranda. Margret erschrak bei ihrem Anblick. Das Mädchen schaute deprimierter drein als am Tag ihrer Anreise.
„Komm, mein Kind, setz dich doch. Wie war es in der Stadt?“
Kriemhild zögerte. Sie stand am Fenster und blickte hinaus in die Dünen.
„Weißt du, ich … war gar nicht in der Stadt. Samuel hat mich seinen Eltern vorgestellt. Sie hörten von dem Vorfall auf der Party und wollten mich kennenlernen.“
„Er hat was ?“ Der Junge war schon seltsam genug. Tagtäglich saß er am Strand und schaute stundenlang aufs Meer hinaus. Es war okay, dass Kriemhild ihn kennengelernt hatte, aber wieso um alles in der Welt stellte er sie nach ein paar Tagen seinen Eltern vor? Margret erhob sich aus dem Schaukelstuhl und ging zu ihr hinüber. „Du hast seine Eltern getroffen? Was hat das zu bedeuten?“
„Keine Ahnung, ich weiß selbst noch nicht, was ich davon halten soll. Seine Familie ist mir ein Rätsel, Margret.“
„Ja, sie leben sehr zurückgezogen. Diese Wissenschaftler sind alle seltsam, wenn du mich fragst.“ Sie nahm die dichten, roten Haare ihrer Nichte und legte sie zu einem Zopf zusammen. Margret hegte da so einen Verdacht. Vielleicht täuschte sie sich auch.
„Sag mal, Kriemhild, kann es sein, dass du diesen Jungen magst?“
Das Mädchen drehte sich ruckartig um. Der Zopf fiel aus Margrets Händen und löste sich auf.
„Fang du nicht auch noch damit an! Was soll das? Ich bin nicht hergekommen, um mir den Nächstbesten anzulachen. Diese Sache mit Justus setzt mir ohnehin genug zu – Verzeih mir, Tante Margret. Ich wollte nicht laut werden.“
„Du brauchst dich nicht zu entschuldigen. Du bist jung. Und dieser Junge ist anders als die anderen. Das habe selbst ich bemerkt, obwohl meine Blicke in all den Jahren immer trüber geworden sind.“
Ein scheues Lächeln huschte über Kriemhilds Züge. Geschickt wechselte sie das Thema.
„Wie geht es dir heute? Du siehst müde aus.“
Margret senkte den Blick und dachte an das Couvert auf ihrem Nähtisch.
„Willst du lesen, was dein Großvater geschrieben hat?“
„Ich soll den Brief lesen? Ich weiß nicht. Ich denke, es ist eine Sache zwischen ihm und dir.“
„Komm her, setz dich. Du sollst ihn lesen, ich will deine Meinung hören.“
Margret zog einen Stuhl heran und reichte ihr das Papier. Kriemhild entfaltete den Brief und begann die Zeilen in sich aufzunehmen. Margret kannte längst jedes Wort auswendig.
Margarethe,
ich weiß, dass du mich hasst. Und ich weiß, dass die Schuld, dass alles so gekommen ist, auf mir lastet. Ich habe mir immer vorgenommen, mit dir zu reden. Irgendwann. Jetzt ist es zu spät; nicht mehr lange und das Leben wird mich verlassen. Wenn man es als Leben bezeichnen kann, was mich da verlässt.
An jenem Tag habe ich eine schwere Last auf mich genommen, eine schwere Schuld auf unsere Familie. Ich weiß nicht, warum ich so ausgerastet bin. Vielleicht wollte ich, dass du einen gestandenen deutschen Mann heiratest. Der Krieg hat uns alle gebeugt. Ich hatte Angst, dir nicht die Zukunft bieten zu können, die ich mir für dich gewünscht hätte. Ich war ein harter Mann. Aus heutiger Sicht würde ich anders handeln.
Ich brauche dir nichts über den Schmerz zu sagen, den man empfindet, wenn man ein Kind verliert. Glaub mir, er ist derselbe. Egal, ob der Verlust selbstverschuldet ist, oder nicht. Seit fünfzig Jahren lebe ich mit diesem Schmerz. Und ich werde mit ihm sterben. Ich werde mich vor dem Herrgott dafür verantworten müssen. Was soll ich sagen? Was soll ich Ihm sagen? Wo ich zu feig war, mit dir zu sprechen?
Doch ich werde Ihn um Verzeihung bitten. So, wie ich auch dich um Verzeihung bitte. Es gibt keine Entschuldigung für die Angelegenheit. Mir bleibt einzig die Hoffnung auf Barmherzigkeit.
Wie wünschte ich mir, du wärest hier, an meinem Sterbebett. Wie wünschte ich, mein Leben würde noch einmal dort beginnen, wo die Chance auf Versöhnung bestand. Ich wünschte, ich hätte das Glück durch mein Tun nicht getrübt. Dein Glück und das Glück deiner Ehe. Das Glück, das ich mir immer für dich gewünscht habe. Johns Glück, der zum wichtigsten Mann in deinem Leben wurde. Ich habe ihn falsch eingeschätzt. Vielleicht wäre auch das Kind bei euch geblieben, hätte es meinen Segen gehabt.
Verzeiht mir. Irgendwann. Ich weiß, dass ich dich liebe. Seit deiner Geburt.
Dein Vater
Kriemhild legte das Blatt beiseite und Margret bemerkte die Tränen in ihren meergrünen Augen. Ein Moment des Schweigens verstrich.
„Was sagst du dazu? Dieser alte Sturkopf!“
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