Samuel drehte sich weg und rang nach Fassung. Er wich ihrem Blick aus und sprach so leise, dass sie fast nichts verstand.
„Mir tut es nicht leid. Ich würde es jederzeit wieder tun. Jedoch solltest du mich nie mehr zwingen, Dinge zu sagen – zu denken – die etwas auslösen könnten, was ohnehin unmöglich ist. Es wäre zu viel der Erklärungen, du würdest es nicht verstehen. Bitte frag nicht, wieso mein Vater dich sehen will. Noch heute.“
„ Wie bitte ?“
„Mein Wagen steht dort drüben. Ich warte auf dich. Lass dir Zeit, deine Tante hat unseren Streit mitbekommen und will sicher wissen, was los ist.“
„ Was redest du da ?“
Kriemhild sah sich um und suchte nach Tante Margret. Sie war nirgends zu finden. Wie kam er darauf, dass sie alles mitbekommen hatte? Als sie ihn fragen wollte, war er bereits auf dem Weg zu seinem Wagen.
Ihre Tante stand an der Wand hinter der Verandatür. Von draußen war sie unmöglich zu sehen, von ihrer Position aus konnte sie jedoch jedes Wort verstehen, das unten gesprochen wurde. Woher wusste Sam davon?
Sie fiel Kriemhild in die Arme, als sie eintrat. „Kind, ist alles in Ordnung mit dir? Ich habe ein wenig von eurem Streit mitbekommen. Was ist denn nur passiert? Was wollte der Officer?“
Margrets Augen waren angsterfüllt. John betrat das Wohnzimmer und schaute fragend.
„Beruhigt euch erst mal. Das alles ist ein Missverständnis. Jemand hat mich auf der Party als vermisst gemeldet, weil ich ausgerutscht und beinahe ins Meer gefallen bin. Samuel hat mich aufgefangen, dabei habe ich meine Tasche verloren. Und soll ich euch was sagen? Mein Handy war drin. Damit habe ich endlich Ruhe vor Justus.“
Die Tatsache beruhigte selbst Kriemhild. Tante Margret und Onkel John atmeten erleichtert auf. Wieso hätte sie ihre Verwandten unnötig in Angst und Schrecken versetzen sollen? Die Wahrheit hätte sie nur beunruhigt.
„Worüber habt ihr gestritten?“ Margret hielt Kriemhilds Hände.
„Eine kleine Meinungsverschiedenheit. Ich fahre kurz mit Samuel in die Stadt, wenn ihr einverstanden seid.“
Ihre Verwandten wechselten einen schnellen Blick. John räusperte sich.
„Sicher. Wir wollten morgen mit der Fähre rüber nach Martha’s Vineyard. Vielleicht fragst du ihn, ob er uns begleiten möchte?“
„Nein, Onkel. Das ist keine gute Idee. Ich will nicht, dass er mitkommt.“
Sie hatte nicht die Spur einer Ahnung, wieso Mister Dawson sie sehen wollte. Irgendwas sagte ihr, dass das nichts Gutes bedeutete. Samuel jedenfalls schien der Gedanke nicht zu gefallen. Kriemhild dachte, es sei vielleicht besser, sich etwas Seriöses anzuziehen und ihre Haare zu machen. Also lief sie die Treppe hinauf und wühlte in ihren Kleidern. Brooke hatte erwähnt, seine Leute wären auf ihrem Gebiet weltbekannte Meeresbiologen. Vermutlich hochgestochene Freak-Eltern, die in ihrer Villa hockten und staubige Bücher über den Ozean wälzten. Dabei aßen sie Sushi.
Sie wählte die dunkelgrünen Sandaletten mit Absatz, einen knielangen beigefarbenen Rock und ein khakifarbenes Trägershirt. Wer wusste schon, worauf Meeresbiologen standen? Und wieso um alles in der Welt wollte sie ihnen gefallen? Kriemhild kannte die Leute nicht mal.
„Nett, dass du gekommen bist.“
Sam besaß die unfreundliche Angewohnheit, sie mit seinen Blicken zu ignorieren, während er sprach. Er ließ den Wagen an und fuhr die Straße hinab. Seine Nähe brannte auf Kriemhilds Haut wie Salzwasser, das in eine Wunde spülte.
„Was soll das? Ich meine, was tu ich hier? Wieso will dein Vater mich sehen? Denkt er etwa, wir wären … ein Paar ?“
„ Denk nicht mal an sowas, verstanden?“, fuhr er sie barsch an. „Heute Morgen kam dieser Bulle und schellte an der Tür. Mein Dad öffnete und erfuhr, dass ich wegen eines Mädchens in eine Schlägerei verwickelt war. Du hast keine Ahnung, wie er getobt hat. Jetzt will er sehen, wer es wert war, dass ich mich um sie prügel.“ Sie schaute ihn mit großen, ungläubigen Augen an.
„Das ist nicht wahr, oder? Willst du mich auf den Arm nehmen? Wie alt bist du? Zwölf ? Ich komme mir ziemlich bescheuert vor, um ehrlich zu sein!“
„Ich habe dir gesagt, du sollst nicht fragen. Du würdest es nicht verstehen. Also belass es einfach dabei. Sei nett zu ihm, sag hallo und dann bringe ich dich wieder heim.“
„Samuel, ich bin kein Zootier, das man sich einfach so anschaut! Das alles ist ein schlechter Witz!“
„ Das verstehst du nicht !“
„So, wie ich nicht verstehe, wie du mich bei dem Wellengang gestern retten konntest? In 150 Metern Entfernung vom Strand? Im Dunkeln? Oder so, wie ich nicht verstehe, woher du wusstest, dass Tante Margret hinter der Wand steht und unseren Streit belauscht?“
Er schüttelte den Kopf und lachte leise. „Ich habe einige Jahre lang als Rettungsschwimmer gearbeitet. Und dass deine Tante lauschen würde, hättest du dir selbst denken können, nachdem ein Officer in ihrem Garten aufgetaucht ist.“
„Würdest du da vorne bitte anhalten? Ich muss Brooke benachrichtigen, bevor sie überall von meinem Verschwinden erzählt. Und dann möchte ich gern wieder nach Hause.“
„Das ist nicht nötig. Brooke hat die Party verlassen, nachdem du mit Jason abgezogen bist. Sie war eifersüchtig. Wenn sie von dem Vorfall erfahren hat, dann sicher nicht aus erster Hand.“
Fassungslos lauschte sie seinen Worten. „Woher willst du das alles wissen? Dass sie eifersüchtig war? Und die Party verlassen hat? Hast du mit ihr gesprochen?“
Er schaltete einen Gang runter. Sie bogen in ein Dünental.
„Dort drüben ist unser Haus.“
Zum ersten Mal, seit Kriemhild im Wagen saß, schaute er ihr direkt in die Augen. Sein Blick war flehend, fast ängstlich. Und er durchdrang sie bis ins Mark. Ihre Hand umklammerte den Türgriff, um den Opalen standzuhalten.
„Kriemhild, ich verspreche dir, dass du mich nie wiedersehen wirst, wenn du mich jetzt nicht im Stich lässt. Bitte, frag ihn nichts. Das würde alles nur noch schlimmer machen.“
Justus
Es geschah einige Jahre zuvor, nachdem er mit sechzehn seinen Realschulabschluss gemacht hatte und auf das Gymnasium wechselte. Bis zu dem Tag hätte er sein Leben als durchschnittlich bezeichnet. Seine Eltern legten sehr großen Wert darauf, dass er das Abitur machte. Schließlich stellte das die besten Voraussetzungen dar, um später die Reederei seines Vaters zu übernehmen. Was sonst sollte man in Bremerhaven anfangen, wenn nicht etwas, das die Seefahrt beinhaltete?
„Ist der Platz noch frei?“ Er hasste seine Unsicherheit. Neue Gesichter, neue Räume, neue Schule, alle kannten sich, er war der Eindringling.
„Nein. Der Typ, der da sitzt, wurde Opfer der letzten Chemiestunde. Er trug seine Schutzbrille nicht, als wir das Unsichtbar-Serum testeten.“
Beinahe die gesamte Klasse lag am Boden vor Lachen. Nur sie nicht. Die Rothaarige schlug dem Fiesling vor ihr auf den Hinterkopf. „Musst du dich gleich bei dem Neuen unbeliebt machen, Frank?“
„Hast du etwa Angst, er ruft seinen Papi, Kriemhild?“
Sie ignorierte die Gelächter einbringenden Worte. Ihr Blick galt Justus, nur ihm. Dann das Lächeln; rein und fließend.
„Der Platz neben mir ist noch frei“, sagte sie mit engelsgleicher Stimme.
Frank holte zum nächsten theatralischen Schlag aus. „Kriemhild, die Edle, schwor einst ihrer Mutter ewige Keuschheit. Bis Sigfried in ihr Leben trat.“
Wieder grölte die Klasse.
„Frank, halt endlich die Klappe!“
Justus nahm Platz und schaute in ihre meergrünen Augen. „Danke.“
„Kein Thema. Frank tut alles, um seine Unterbelichtung im Kostüm des Klassenclowns zu verstecken. Du bist Justus?“
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