Jason setzte sich auf und stöhnte. Sein Kopf hämmerte. Er fasste sich übers Gesicht und bemerkte das ausströmende Blut. Die Nase war fürs Erste hin. So ein Mist! Er schaute sich um und entdeckte James und Matthew, die neben ihm auf dem Pier hockten und sich die Köpfe hielten. Sie hatten den Freak total unterschätzt.
„Ihr Vollidioten!“, schrie er sie an. „Kommt zu zweit nicht mal gegen diesen Vogel an!“
„Hey, Jason, du hast doch gesehen, wie der uns umgenietet hat.“
„Lass das peinliche Gejammer, James! Wir brauchen einen Plan. Los, ruf die Bullen!“
„Die Bullen ?“, rief sein Kumpel entsetzt.
„Ja, Mann, die Bullen! Oder hast du was mit den Ohren?“
Kriemhild
„Wie aufmerksam von dem Jungen, dich heimzufahren. Hat dir die Party denn gefallen?“
Tante Margret nahm einen Schluck Kaffee und musterte sie aus den Augenwinkeln.
Die Party. Seltsam. Obwohl Samuel ihr versichert hatte, dass sie sich an nichts erinnern würde, sah Kriemhild alles klar vor Augen. Vor allem die Szene in seinem Wagen. Sie war ihr in ganz besonderer Erinnerung. Er hatte sie aus dem Ozean gefischt, was ihr zu denken gab. Samuel schuldete ihr ein paar Antworten.
„Ja, sehr aufmerksam. Du hättest aber nicht auf mich warten müssen.“
„Natürlich musste ich das. Ich bin deine Tante und wenn dir hier etwas zustößt, würde deine Ma es mir nie verzeihen. Und ich mir auch nicht. Noch ein Brötchen, Liebes?“
„Danke. Das deutsche Frühstück hast du dir offenbar beibehalten.“
Margret nickte. „Offenbar. John hat es zu lieben gelernt. Dieses Fastfood kann einem auch wirklich auf den Magen schlagen.“
Im selben Moment betrat ihr Onkel das Esszimmer über die Veranda. Er sah etwas blass aus und zögerte, bevor er das Wort ergriff.
„Kriemhild, da draußen ist jemand für dich.“
„Für mich ?“
Er nickte, nahm den Sonnenhut vom Kopf, den er bei der Gartenarbeit immer trug, und drehte ihn nervös in den Händen umher.
„Ja. Es ist dieser … Dawson-Junge, der immer drüben in den Dünen sitzt. Er steht unten am Strand mit … einem Police Officer. Sie wollen mit dir reden, über die Tasche, die du vermisst.“
„Meine Tasche ?“
Margret griff erschrocken nach ihrer Hand. „Du vermisst eine Tasche? Davon hast du gar nichts erzählt. Waren Wertgegenstände drin? Bist du etwa beklaut worden?“
Kriemhilds Stimme versagte. An die Tasche hatte sie gar nicht mehr gedacht. Sie musste sie im Meer verloren haben. Schweigend erhob sie sich und ging an John vorbei hinaus auf die Veranda. Samuel stand neben einem Officer und wirkte ziemlich durcheinander.
„Was ist hier los, Sam? Ich habe meine Tasche nicht als vermisst gemeldet. Ich verstehe das alles nicht.“
Aus irgendeinem Grund wich er ihrem Blick aus.
„Guten Morgen, Ma’am, verzeihen Sie die Störung. Mein Name ist Officer David Cooper, Falmouth Police Department.” Er hielt ihr eine silberne Dienstmarke hin und sie kam sich vor wie in einer der amerikanischen Krimiserien. „Es handelt sich hier nicht um eine Tasche, die als vermisst gemeldet wurde, sondern um eine junge Frau.“
Ein flaues Gefühl machte sich in ihrem Magen breit. Endlich schaute Sam in ihre Richtung, wenn auch nicht in ihre Augen. Er raufte sich die Haare. „Ich habe ihm schon gesagt, dass hier niemand vermisst wird. Aber er muss das abchecken, wenn du verstehst, was ich meine. Die Sache mit der Tasche habe ich vorgeschoben, um deinem Onkel keinen Schrecken einzujagen.“
„ Was ? Wer kommt darauf, irgendjemand würde vermisst? Officer, ich verstehe nicht ganz, was hier eigentlich los ist.“
„Sehen Sie, gestern Abend fand eine Strandparty am Pier statt. Gegen zweiundzwanzig Uhr dreißig ging in der Zentrale ein Anruf ein. Jemand berichtete von einer Schlägerei, in die Mister Dawson verwickelt gewesen sein soll. Dabei soll ein junges Mädchen – deren Beschreibung eindeutig auf Sie zutrifft – über das Sicherheitsgeländer des Piers gestoßen worden sein. Daraufhin wurde die Party polizeilich beendet und ein Taucherteam suchte die halbe Nacht erfolglos nach der jungen Frau.“
Kriemhild wurde schwindelig. Ihr Puls überschlug sich beinahe. Die Aktion konnte sie unmöglich vor Onkel John und Tante Margret geheim halten.
„Geht es dir gut? Willst du dich einen Moment lang setzen?“ Sam schaute besorgt. Ihm war ihr Schock offenbar nicht entgangen.
„Alles in Ordnung. Ich bin nur etwas erschrocken über die Sache.“
„Ma’am? Verzeihen Sie, aber ich muss Sie ein paar Dinge fragen. Waren Sie gestern auf dieser Party?“
„Ja. Und wie Sie sehen, bin ich am Leben und wohlauf.“
„Dann stimmt es also nicht, dass Sie ins Meer gestoßen wurden?“
„Ich wurde nicht gestoßen. Ich bin auf dem Pier ausgerutscht und ins Wasser gefallen. Mister Dawson zog mich sofort heraus und wir verließen die Party. Wer der drei anderen hat mich denn als vermisst gemeldet?“
Samuel fuhr sich wieder durch die Haare. Kriemhild verstand nicht, aus welchem Grund er das immer tat. Wieso war er so nervös?
„Der Anruf ging anonym ein. Wissen Sie vielleicht mehr über diese Schlägerei?“
Sie schaute zu Sam hinüber. Er hatte keinen Namen preisgegeben.
„Allerdings. Die drei Jungs sind die Einzigen, die dafür in Frage kommen. Dieser Jason, James und ein Freund der beiden, dessen Namen ich nicht kenne. Officer, ich denke, einer der Jungs hat mir was in meinen Drink gemixt. Zur Schlägerei kam es, weil Mister Dawson mir helfen wollte.“
Samuel sah sie so wütend an, als würde er ihr jeden Moment an den Hals springen.
„Mister Dawson? Würden Sie das bestätigen?“
Er schnaubte verächtlich. Dann nickte er. Officer Cooper machte einige Notizen auf seinem Schreibblock.
„Ma’am, wenn Sie sagen, jemand habe Ihnen etwas in den Drink gemischt, gehe ich richtig in der Annahme, dass Sie von dem illegalen Betäubungsmittel GHB sprechen? Sie erheben da schwere Anschuldigungen. Möchten Sie Strafanzeige erstatten?“
Samuel drehte sich weg und atmete tief durch. Sein Verhalten irritierte Kriemhild zunehmend.
„Wenn es so wäre, könnte man dieses Mittel in meinem Blut noch nachweisen?“
Der Officer warf einen Blick auf seine Armbanduhr. „Schwer zu sagen. Ich denke, eher nicht.“
„Dann möchte ich gern von einer Strafanzeige absehen.“
„Vielen Dank, Ma’am. Ich habe vorerst genug gehört. Ich würde Sie dann um Ihren Namen und die Anschrift bitten, nur fürs Protokoll, Sie verstehen. Falls Sie doch über eine Anzeige nachdenken, kommen Sie einfach aufs Department.“
„Natürlich. Ich danke Ihnen. Tut mir leid für die Unannehmlichkeiten.“
Er lächelte. „Das ist mein Job, Ma’am, und ich bin sehr erleichtert, dass Sie wohlauf sind und wir nicht mehr damit rechnen müssen, dass in den nächsten Tagen eine Leiche an den Strand gespült wird.“
Der Gedanke daran jagte Kriemhild eine Gänsehaut über den Rücken.
Samuel wartete, bis der Officer außer Sichtweite war. Dann packte er sie hart am Arm und verschaffte seinem Ärger Luft.
„Musstest du unbedingt die Namen dieser Typen verraten? Du weißt anscheinend gar nichts über sie!“
Sie schüttelte ihn ab und wich einen Schritt zurück. Dort, wo er ihren Arm gepackt hatte, brannte ihre Haut. Seine Augen blitzten in der Sonne.
„Ach, nein? Vielleicht weiß ich nichts über sie, allerdings habe ich genug mitbekommen, um zu wissen, wie kriminell sie sind! Warum schützt du sie? Hast du etwa Angst vor ihnen? Sie hätten mich beinahe umgebracht , schon vergessen?“
„Nein, das habe ich nicht vergessen! Und es wäre besser, wenn du niemals erfährst, was ich deinetwegen riskiert habe. Was diese Typen angeht, ihre Väter sind sozusagen das New Yorker Gesetz ! Sei froh, dass du von dieser Anzeige abgesehen hast, sonst hättest du sehr bald einen Prozess am Hals, den du in hundert Jahren nicht gewinnen würdest. Die sind eine Nummer zu groß für dich. Leute wie uns zerquetschen die zu Staub, verstehst du das?“ „Wer hätte denn ahnen können, dass sie mich gleich als vermisst melden und dich im Zug der Schlägerei erwähnen? Dass dieser Officer hier aufkreuzt, hat mich völlig überrascht. Und im Übrigen hat dich niemand gebeten, mich zu retten. Es tut mir leid, dass du meinetwegen etwas riskieren musstest.“
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