1 ...6 7 8 10 11 12 ...18 Zuhause angekommen, stelle ich das Fahrrad im Garten ab. Nur keine unnötigen Geräusche machen. Selbst das Öffnen der Garage könnte Aufmerksamkeit erregen. Ich bin schon fast im Haus, als ich merke, dass ich etwas vergessen habe. Die Fahrrad Gepäckbox ist noch montiert. Morgen, nein nachher zwischen 6:00 und 7:00 Uhr kommt die Müllabfuhr. Nur ein paar Stunden sind es bis dahin. Da sollte nichts passieren. Ich zerstöre durch kurzes Überdehnen des Scharniers die Box, damit sie unbrauchbar wird und lege sie möglichst geräuschlos in die Mülltonne. Den Transportbehälter aus Isolierschaum entsorge ich auf dem gleichen Weg. In ein paar Stunden wird nichts mehr davon zu finden sein.
Nach einer ausgiebigen Dusche gönne ich mir einen Drink. Ich rede mir ein, dass ich nur so einschlafen könnte. Mit dieser Argumentation gönne ich mir gleich einen zweiten. Noch bevor ich den ersten Schluck des zweiten Drinks nehme, übermannt mich die Müdigkeit. Gerade noch schaffe ich es in mein Bett.
Drückend gewinnt die Sommerhitze wieder die Oberhand und ich werde trotz der extrem kurzen Nacht gegen neun Uhr wach. Vielleicht war es auch das Telefonklingeln, das ich unbewusst im Schlaf wahrnehme. Oh – jetzt nur kein Anruf. Das kann ich gar nicht gebrauchen. Trotzdem nehme ich den Hörer ab und melde mich schroff nur mit meinem Namen. Dabei spreche ich meinen Namen mit ganzer Kraft, um den Eindruck zu erwecken, ich wäre schon lange wach. Ich will mir die Anstrengungen der Nacht nicht anmerken lassen.
„Franz, stell dir vor was heute Nacht passiert ist, Schneider, Erwin Schneider ... ist tot.“ Noch bevor ich eine Frage stelle, geht´s weiter. „Schneider ist heute Nacht mit dem Auto verunglückt. Er war wohl, wie ja so oft, zu schnell unterwegs.“ Der Anrufer hat sich nicht namentlich gemeldet, aber selbstverständlich erkenne ich sofort die Stimme. Es ist Frank. „Das“, so erwidere ich mehr oder weniger scheinheilig, „das habe ich ihm nicht gegönnt.“ Ich weiß nicht, wie ich reagieren soll. „Ich habe ihm zwar nie verziehen und hätte ihm nie verziehen. Aber das hätte ich ihm nicht gewünscht.“ Klinge ich glaubhaft? „Halt mich auf dem Laufenden, falls es was Neues gibt. Wir sollten uns wieder mal sehen.“ „Hier ist der Teufel los, ich melde mich wieder. Alles ist in Aufruhr. Tschüss.“ Schon klickt es in der Leitung.
Ich starre aus dem Fenster. Was war passiert? Ich wurde ungerecht behandelt und hatte Rachegefühle. Private oder berufliche Ablenkung konnten Phantasien, wie sie jeder wohl einmal hat, nicht vertreiben. Zu meinem Unglück bin ich in einen Teufelskreis geraten und habe die Phantasien realisiert.
Bis gestern war ich unfreiwilliger Ruheständler. Seit heute bin ich ein Mörder, ein gemeiner, hinterhältiger Mörder. Die Worte klingen schal. Irgendwie kommt mein Gefühl nicht hinterher. Ich habe das schlimmste und niederträchtigste Verbrechen begangen - Mord. Vielleicht sitze ich schon ab morgen mit anderen Mördern und Schwerverbrechern im Gefängnis und teile das Gefühl von Reue, Wut und Ausweglosigkeit.
Noch immer halte ich den Hörer in der Hand. Franz, was ist aus dir geworden? Soll ich mich stellen? Vielleicht wirkt sich ein Geständnis strafmindernd aus? Kann ich mit dieser Schuld leben? Was ist, wenn ich Erwins Frau Elke oder den Söhnen begegnen sollte? Ich wollte Erwin schädigen, ihn demütigen und mich rächen, aber keinesfalls wollte ich ihn töten. Das war nicht mein Plan. Hätte ich damit rechnen müssen? Habe ich es billigend in Kauf genommen? Was ist schief gelaufen?
Zum Frühstück bekomme ich keinen Bissen hinunter. Es reicht lediglich für drei Tassen Kaffee. Ich lege das Mountainbike von heute Nacht ins Auto und alle Gegenstände aus meinem Labor, die ich verwendet habe. Es sind nur wenige, am verräterischsten ist die Eiswürfelform. Die Mülltonne hole ich von der Straße zurück auf das Grundstück. Die Tonne ist bereits geleert. Nach meiner Einschätzung sind hier alle verwertbaren Spuren unwiederbringlich beseitigt.
Ich fahre über die Autobahn in eine andere Stadt. Auf einer Autobahnraststätte entledige ich mich an einem Abfallcontainer der verwendeten Laborgegenstände. Es darf keine Spuren, keine Indizien geben. Auf einem Einkaufszentrum am Rande der Stadt hole ich mein Fahrrad aus dem Kofferraum und fahre in die Fußgängerzone der Innenstadt. Das Fahrrad stelle ich ungesichert ab. Das Fahrrad wird sehr schnell einen neuen Besitzer finden und mir nicht mehr zuzuordnen sein. Ich glaube, das ist besser, als das Rad irgendwo zu entsorgen. Ein irgendwo entsorgtes, funktionsfähiges Fahrrad könnte auffallen und der erste Ansatz für eine Ermittlung, eine Spur sein. Der neue Besitzer des Fahrrads wird sich fürsorglich um seine Neuerwerbung kümmern. Unmöglich, es mir dann noch zuzuordnen.
Planlos irre ich durch die Stadt. Jeder uniformierte Ordnungshüter, selbst die Damen vom Ordnungsamt auf der Suche nach Parksündern lassen mich erschrecken. In jeder Minute rechne ich mit meiner Verhaftung, was selbstverständlich jeder rationalen Begründung entbehrt. Im Laufe des Nachmittags ordnen sich meine Gedanke allmählich und ich werde ruhiger. Ich kann sogar etwas essen und wider Erwarten schmeckt es mir. Ich gehe noch einmal an meinem abgestellten Fahrrad vorbei. Entgegen meiner Erwartung hat es noch keinen neuen Besitzer gefunden. Natürlich lasse ich es stehen und gehe zum Auto zurück.
Wann immer ich unter einer Brücke hindurchfahre, schaue ich nach oben, ob jemand in mörderischer Absicht den Verkehr beobachtet. Der Gedanke ist völlig abwegig, mein Denken ist heute nur bedingt vernunftgesteuert. Wer zum Teufel sollte so etwas tun, genau heute, genau in dem Moment, in dem ich unter der Brücke durchfahre. Erst nach der zwanzigsten oder dreißigsten Brücke gewinnt mein Verstand wieder die Oberhand über mein Handeln und ich zwinge mich dazu, ohne hochzusehen, unter den Brücken hindurchzufahren - zunehmend verlieren sich meine Ängste.
Zuhause angekommen gibt es nichts Verdächtiges. Offensichtlich interessiert sich keiner für mich. Fahrrad fahren zur Ablenkung möchte ich heute mit Sicherheit nicht. Noch einmal überprüfe ich mein Labor auf mögliche, verdächtige Spuren. Nichts zu sehen. Es gibt nur einen möglichen Nachweis für meine Täterschaft. Ich bin übersät mit Mückenstichen. Der ganze Körper juckt.
Was kann ich heute tun? Eine unendliche Leere ist in mir. Ich fühle mich wie am Tag meiner Entlassung aus dem Unternehmen. Für mich gibt es nichts mehr zu tun – meine einzige Aufgabe ist seit gestern wie ein flüchtiger Stoff in meinem Labor entschwunden. Kein Beruf - keine Aufgabe.
Ich laufe durch mein Haus und komme mir wieder einmal vor wie ein gefangenes Raubtier im Käfig. Ich fühle mich wie mit einer Zeitmaschine an den Tag meiner Entlassung zurückversetzt. Diese schreckliche Leere. Zuerst wurde mir mein Beruf genommen. Jetzt habe ich die letzte Aufgabe, die für mich noch offen war, an der ich mich festhalten konnte, die mir Halt und Motivation gegeben hat, die ich um jeden Preis erledigen wollte, abgeschlossen. Ich bin nutzloser denn je. In dieser Gesellschaft gibt es für mich keine Aufgabe mehr.
Am Abend weiß ich nicht, ob das alles ein schlechter Traum war oder die brutale Realität. Ich rede mir ein, dass ich ohne Alkohol nicht einschlafen kann. Aufgrund des Schlafdefizits der letzten Nacht schaffe ich gerade einmal einen Drink. Wie tags zuvor will ich einen zweiten Drink zu mir zu nehmen, werde aber bereits beim ersten Schluck von der Müdigkeit übermannt und schaffe es gerade noch mit Mühen ins Bett, bevor ich in meinem Sessel einschlafe.
Zu meinem Erstaunen werde ich in der Nacht nicht wach, habe keine Albträume und am nächsten Morgen auch nicht den Anflug eines schlechten Gewissens. Zum Frühstück lese ich immer, und so auch heute, die Lokalzeitung. Der Unfall von Erwin wird in einem großen Bericht dargestellt. Die Überschrift empfinde ich als Ritterschlag meiner präzisen Vorarbeit: Ferrari rast in den Tod. Tödlicher Unfall aufgrund unangemessener Geschwindigkeit bei Hagelschlag . Welche eine Einschätzung! Besser geht es nicht.
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