Wasser läuft langsam mein Gesicht hinunter, zieht glänzende Bahnen auf der blassen Haut. Ich sehe die Oberfläche der Wassertropfen im Licht zittern, die Wangen hinunter perlen, wie unter einem Mikroskop. Sehe, wie der Bart feuchter und dunkler wird, wie sich das Wasser sammelt, bevor es den Hals hinunterfließt. Gleichzeitig leuchten die Wandkacheln hinter mir auf, anders als sonst, greller. Ich könnte mich umdrehen und sie berühren, wenn ich wollte. Aber ich kann nicht. Selbst wenn ich wollte.
Ich bin nicht mehr vor dem Spiegel. Ich bin dahinter.
Vor dem Spiegel stehe ich noch immer im Bad, im nächsten Traum gefangen. Ein Teil von mir ist weg, durch den Spiegel geschlüpft. Ich schaue hinaus, an meinem Körper vorbei ins Bad, hinter mir gellt der Schrei. Ein Schauer fährt mir über den Rücken, ein kalter Luftzug.
Ich drehe mich um.
Ich bin in einer Wohnung, die ich von früher kenne. Als Kind habe ich hier ein paar Jahre gewohnt. Ich weiß nicht mehr viel von der Zeit, außer dass wir damals noch eine richtige Familie waren oder so taten und dass ich hier mal zu Hause war. Ich stehe in der Küche. Das Licht fällt dämmrig blau durch das Fenster rechts von mir, sammelt sich fleckig auf den Küchenschränken, die sich an den Wänden aufreihen. Ich drehe mich um und sehe vor mir eine Frau und einen Mann stehen. Sie umarmen sich. Dann geht der Mann ein paar Schritte zurück, während die Frau zusammenbricht und auf dem Boden liegen bleibt. Der Mann hebt den Kopf. Er hat kein Gesicht.
Ich drehe mich um und renne los. Die Wohnung ist groß, viel größer, als ich sie in Erinnerung habe. Ein Raum führt in den nächsten, ohne dass ich den Ausgang erreiche. Mattes Licht fällt durch die Fenster, an denen ich vorbeilaufe, leuchtet in kleinen Teichen auf dem Boden. Ich trete gegen dunkle Möbel, stolpere über Schatten, durchquere Tür um Tür, ohne mich umzudrehen. Ich bin nicht schnell genug, die Zeit wird knapp, ich muss meine Papiere finden, meine Tasche packen, zum Flughafen fahren. Aber ich weiß nicht mehr, wo ich meine Sachen gelassen habe. Und die Wohnung wird immer größer.
Schließlich nehme ich einen Satz über die nächste Türschwelle, stolpere, falle hin, stehe wieder auf. Ich bin allein. Vor mir bewegt sich etwas. Ich schaue genauer hin. Eine Masse von glänzenden, ineinander verwobenen Kabeln liegt zwischen mir und der Tür. Ich höre das Schaben auf dem Holzboden. Die Kabel bewegen sich. Mein Blick geht zur Tür. Der Mann steht an der Schwelle. Jetzt sehe ich sein Gesicht. Ein Auge lässt er über die Kabel gleiten, mit dem anderen schaut er mich an. Plötzlich stößt er den Schrei aus, von dem ich aufgewacht bin.
Ich drehe mich um. Renne los. Sehe den Spiegel an der gegenüberliegenden Wand.
Die Kacheln sind kalt unter den Füßen, Flüssigkeit tropft mir den Hals und die Brust hinunter. Ich stehe vor dem Badezimmerspiegel. Aus meiner Nase läuft Blut. Mein Mund ist offen. Ich wische mich mit dem Handtuch ab und gehe ins Bett.
Der nächste Morgen ist feucht und kühler als die Tage davor. Die Luft riecht frisch wie nach einem Gewitter. Um das Bett herum liegen blutige Taschentücher. Ich sammle sie ein, werfe sie in den Abfall, trage die volle Tüte zum Müll in den Hof. Als ich zurückkomme, überfällt mich das seltene Verlangen, die Wohnung zu putzen. Ich fange im Bad an, entferne braune Flecken aus dem Waschbecken, von den Kacheln. Jedes Mal, wenn mein Blick auf den Spiegel fällt, wird mir flau. Das Gefühl des Traums kommt zurück, klebt an mir wie die Feuchtigkeit in der Luft. Ich poliere den Spiegel mit halbgeschlossenen Augen.
Danach rauche ich in der Küche einen Joint und mache weiter mit dem Rest der Wohnung. Ich räume die Farben und leeren Flaschen zusammen, fege und wische den Boden, rauche noch einen und hänge die Wäsche auf. Als ich unter der Dusche stehe, stelle ich mir vor, wie ich mit dem Schweiß alle Erinnerungen an letzte Nacht abwasche. Heute Nachmittag habe ich einen Termin mit Moira. Es geht mir fast gut.
Meine Galeristin und ich treffen uns einmal im Monat. Bei diesen Treffen sagt sie mir, wie viele Leute sich beinahe etwas von mir gekauft und wie viele Leute Interesse bekundet hätten. Ich sage ihr, woran ich arbeite, rattere eine Reihe von erfundenen Arbeitstiteln herunter, bis sie lächelt und mich auf einen Kaffee einlädt. Wir gehen immer in dasselbe Café bei ihr um die Ecke, in ein sauberes Deli im sauber sanierten Gallery District und sie begrüßt den Studenten hinter dem Tresen überschwänglich. Sobald wir sitzen, legt sie mir die Hand auf den Schenkel, schaut mir tief in die Augen und fragt, wie es mit der Liebe läuft. Ich antworte irgendetwas Verwirrtes, sie lacht und bestellt Schnaps. Kurz darauf sind wir betrunken. Das ist das Ritual unserer monatlichen Treffen.
Früher, als sie noch mit meinem besten Freund schlief, waren wir nicht so entspannt miteinander. Inzwischen bin ich für sie mehr ein Hobby als ein Projekt. Heute hat sie eine gute Nachricht für mich. Sie hat Die Mutter verkauft. Das Bild war lange Zeit ihre Lieblingsarbeit von mir und ich dachte, sie würde es für sich behalten. Nun ist es verkauft. Es ging an einen Käufer, den keiner von uns kennt. Mir ist es egal, wo Die Mutter künftig hängen oder stehen wird. Ich bin dankbar für das Geld.
Als ich nach Hause komme, ist die Alkoholeuphorie einer Mattheit gewichen. Ich mache mir einen Kaffee, rolle einen Joint, setze mich in den Sessel und schaue mir die letzten Bilder an. Etwas in mir sträubt sich, ich kann nicht arbeiten. Ich schließe die Augen und stelle mir vor, wie die Zeit über mich schwappt, wie sie mich abschmirgelt, wie ich kleiner und glatter werde, während die Sekunden und Minuten an mir abperlen, in irgendeiner anderen Welt zu Stunden gerinnen, zu Zeiteinheiten, die nicht mir gehören. Stunden, die nur in der Uhr stattfinden, im Wechsel von Licht und Dunkelheit, Lärm und Stille. Verlorene Stunden.
Manchmal zerfallen ganze Tage auf diese Weise, während ich auf dem Bett liege oder im Sessel und nicht male, nicht lese, nicht im Netz bin, nicht saufe, nicht wichse, keine Musik höre, nicht schlafe. Tage, in denen ich nichts mit mir anzufangen weiß. Tage, in denen mir Dinge passieren, ohne dass ich dabei bin.
An diesen Tagen habe ich zu viel Zeit. Zu viel Zeit, um an einem Bild zu arbeiten oder ein Buch anzufangen. Zeit, die sich anhäuft, Stunde um Stunde, erwartungsvoll, voller Möglichkeiten. Zu viele Möglichkeiten. Sie wachsen in einen Berg, der sich dunkel vor mir aufwirft. Zu hoch, um bestiegen zu werden. Manchmal möchte ich nur in der Zeit schwimmen, mich treiben lassen, bis die Zeit wieder knapp wird, bis Struktur in die Stunden gespült wird. Bis ich aufstehe aus dem warmen Zeitbad und unter die kalte Dusche von Terminen, Alltagsritualen und Routine steigen muss.
Heute ist keiner dieser Tage. Heute habe ich meine Termine, Alltagsrituale und Routinen wie ein verantwortungsbewusster Bürger wahrgenommen. Jetzt liegt die Blockade woanders. Ich merke es am metallischen Geschmack im Mund. Am Gefühl, dass etwas in der Luft hängt. Etwas, das raus will. Etwas, das raus muss. Als das Pochen in den Schläfen anfängt, nehme ich eine Schmerztablette, setze mich an den Küchentisch und klappe den Skizzenblock auf. Das Spiel beginnt.
Während ich den Bleistift über das Papier führe, ist mir kein konkreter Gedanke bewusst. Ich versinke immer tiefer in Trance. Scheinbar ziellos verknüpft sich Kringel mit Kringel. Linien ziehen sich über die Fläche und zerschneiden das Blatt, bis es voll gekritzelt ist und ich es automatisch abreiße und auf dem nächsten weiterkritzle. Formen entstehen, eine Gestalt wächst aus der nächsten und eröffnet eine Welt an Möglichkeiten für neue Figuren, die sich sofort wieder zerlegen, Paralleluniversen zeigen sich, verschwinden mit dem nächsten Strich. Ich interpretiere nicht, ich werte nicht. Noch nicht. Ich lasse nur einfach die Gestalten auftauchen, die auftauchen wollen und zerstöre sie sofort wieder mit meiner Hand.
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