Im Hinterhof erwische ich ihn. Ich greife nach seiner Jacke. Will ihm die Brille herunterreißen, will ihm eine reinschlagen. Ein heißer Schauer überläuft mich, Wut, Geilheit, Frust, die Energie der letzten Nacht will sich entladen. Er entgleitet mir, rappelt sich hoch, zieht mich mit sich, durch eine Tür, noch eine Tür. Er schlägt mir in den Magen. Ich stürze und reiße ihn mit. Wir fallen irgendwohin, wo es weich ist. Er würgt mich. Ich schlage ihm die Brille herunter. Er würgt mich weiter. Ich versuche mich herauszuwinden, reiße ihn an den Haaren, kicke mit den Beinen. Er lässt meinen Hals los und drückt meine Hände in die Matratze, auf die wir gefallen sind.
Sein Blick verändert sich. Er öffnet den Mund, als wolle er sprechen. Ich lasse seine Haare los. Er bewegt sich langsamer. Ich starre in sein Gesicht, in seine dunklen Augen, sehe die kreisförmigen Narben auf seiner Brust, die mich an etwas erinnern. Er lässt mich los, schiebt die Hand unter meinen Kopf, berührt meinen Nacken. Ich hebe die Beine, merke, was er tut, starre ihn an, versuche sein Gesicht einzuordnen, ich kenne ihn von irgendwoher, aber woher fällt mir nicht ein. Wie von weitem höre ich seinen schnellen Atem. Dann spüre ich den Schmerz, gebe nach, lasse los, schließe die Augen. Die Geisterfrau lacht mich an, ihr Gesicht schweißüberströmt, ihre Fingernägel in meinem Rücken.
Als er kommt, murmelt er etwas, aber ich weigere mich, die Augen zu öffnen, aufzuwachen, da zu sein. Ich bin da, wo ich sein will. Das Blut rauscht mir in den Ohren. Für einen Augenblick denke ich, es raunt mir etwas zu und ich schreie, um es nicht mehr zu hören, um ihn nicht mehr zu hören. Ich schreie, weil ich in dem Moment immer schreie und weil es mir egal ist. Ich muss lauter sein als mein Kopf.
Als ich wieder zu mir komme, ist er weg. Meine neue Sonnenbrille auch. Ich ziehe mich an und stolpere aus der Wohnung, ohne mich umzudrehen. Ein unsanierter Weddinger Altbau. Müll im Treppenhaus, mehr Müll im Hinterhof, alte Sofas, leere Flaschen, zerrissene Tüten. Ich bahne mir einen Weg durch die überall herumstehenden Fahrräder ins Vorderhaus und atme erst wieder im kühlen Treppenhaus durch. Draußen steht die heiße Luft und immer noch: mein Fahrrad. Es lehnt an einem Baum auf der Straße. Am Lenker hängt eine Tüte. Ich habe auf einmal Angst, dass ich in eine Falle geraten bin. Dass mich in der Tüte etwas Fürchterliches erwartet. Sprengstoff. Eine abgetrennte Hand. Doch die Neugier siegt und ich ziehe die Henkel mit den Zeigefingern auseinander. Meine Brötchen. Ein kleine Flasche Wasser. Und ein Überraschungsei, das ich ganz sicher nicht gekauft habe. Ich öffne es, werfe die weiche Schokolade weg und finde ein grünlich leuchtendes Gespenst in dem gelben Plastikei. Sehr witzig.
*****
Ich liege in einem kleinen Ruderboot, das hin und her schwankt. Über mir der Himmel, Sterne zwischen Wolkenfetzen. Ich kann mich nicht aufsetzen, kann mich nicht bewegen, bin an den Boden dieses Bootes gebunden. Die Schwankungen machen mich müde, aber etwas hält mich wach. Eine Stimme, die nicht nach mir klingt oder vielleicht so sehr nach mir, dass ich sie nicht erkenne, flüstert unentwegt. Ich strenge mich an, um zu verstehen, was sie sagt. Ich strenge mich so an, dass ich Kopfschmerzen bekomme. Ich verstehe: Noch immer hier. Noch immer hier. Ich höre: Nicht angekommen. Nicht angenommen.
Als der Regenbruch anfängt, fange ich an, mich langsam aufzulösen. Ich löse mich auf in viele Teile, die jeder für sich weitertreiben. Ich möchte nicht loslassen, will mich nicht dem Gewitter überlassen, aber ich kann nicht mehr. Ich höre die Stimme: Nichts ist so, wie es sein soll. Kein Mutterschoß. Kein Angekommen, kein Angenommen.
Die Stimme spricht weiter, die Wellen werden höher, bis ich aus dem Boot geworfen werde. Ich schieße ins Wasser, schnell, hart, das Boot über mir ein dunkler kleiner Keil, der in der Gischt verschwindet. Cenobio, lass los. Ich weiß nicht, wer oder was Cenobio ist, aber ich gehorche. Ich höre den Schrei und wache auf.
Ich habe keine Ahnung, was Cenobio bedeutet. Aber ich habe das Gefühl, ich müsste es wissen.
*****
Fiat kommt mittags vorbei und fragt mich, ob ich eine Auftragsarbeit für einen Freund von ihm annehmen würde. Er gibt mir eine Kopie eines Fotos: ein einfaches Holzhaus mit zwei Fenstern. In einem der Fenster ist eine helle Silhouette zu erkennen. Der Geist ist so schlecht hinein retuschiert, dass es das Foto nie in ernsthafte Archive geschafft hat.
„Hydesville. Die Hütte, in der die Fox-Schwestern die ersten Geistersignale empfangen haben.“
„Du bist gut, Beat!“ Fiat klatscht in die Hände.
„Der Fake ist albern. Jeder weiß, dass die Hydesville Geister klopften und nicht an den Fenstern herumstanden.“
„Jeder weiß, dass das Ganze inszeniert war, aber darum geht’s doch nicht, oder?“ Fiat rührt mit den Fingern in der Luft.
„Um was geht’s dann?“
Seine Stimme wird laut. „Um den Anfang der spiritistischen Bewegung!“
„Subtil ist das nicht.“ Ich habe wenig Lust, eine Holzhütte zu malen. „Für wen soll es sein?“
„Für eine Familie. Die Auftraggeber möchten gerne anonym bleiben.“ Er legt die Hände vor dem Bauch zusammen.
„Eine Familie?“
Ich schiebe das Foto vor mir hin und her. „Kommt das Bild ins Kinderzimmer? Soll ich noch ein Tier dazu malen? Wie wäre es mit einem toten Bambi hier?“
Fiat reißt mir die Kopie aus der Hand. „Sie zahlen 800“, ruft er.
„OK.“ Ich zucke mit den Schultern.
Er lächelt mich an.
Ich hefte das Haus der Fox-Schwestern, der „Mütter des Spiritismus“ in Fiats Worten, an die Wand neben der Leinwand, an der ich gerade arbeite. Das lieblos gefälschte Fenstergespenst sieht lächerlich aus. Ich muss mir überlegen, wie ich das Bild interessanter machen kann. Vielleicht deute ich tatsächlich noch irgendwo ein Tier an. Irgendetwas Lebendiges, um einen Kontrast zu bekommen. Wenn alles tot ist, kommt keine Stimmung auf.
Nachdem wir den Abgabetermin besprochen haben, erzähle ich Fiat von meiner letzten Traumserie. Er findet das alles sehr spannend. Ich weniger.
„Es ist vor allem anstrengend. Wenn ich aufwache, bin ich total gerädert.“
„Schlafmittel sind keine Lösung?“
„Ich habe die Träume sogar, wenn ich betrunken ins Bett gehe.“
„Dann versuche es doch mal mit Klarträumen. Du weißt, was das ist, nehme ich an?“
Fiat, der Mann für pragmatische esoterische Lösungen.
Ich nicke. „Ich konditioniere mich vor dem Einschlafen mit entsprechenden Suggestionen, damit mir im Traum bewusst wird, dass ich träume. Dann suche ich meine Hände. Dann beeinflusse ich die Handlung. Korrekt?“
„Ich habe ein gutes Buch dazu, das bringe ich dir mit“, erwidert er und drückt mir einen Zeigefinger in die Brust.
Fiat hat für jedes Problem ein gutes Buch. Ich zeige zum Regal gegenüber. „Du hast mir schon mal eins zum Thema geschenkt, erinnerst du dich? Danke für den Tipp.“
Beim Rausgehen klopft er mir auf die Schulter. „Wie wäre es mit einem Dreamcatcher, Beat?“
In der Nacht darauf träume ich, dass ich ohne Boot im Meer treibe. Ich werde in einen Sturm gezogen, direkt hinein in die Wellen, in die Gischt, in die Schatten großer Fische oder versunkener Schiffe und die Stimme singt leise und monoton: Noch immer hier. Noch immer hier. Nicht angekommen. Nicht angenommen. Der Schoß verschlossen.
Ich schieße durch immer stürmischere Gewässer. Nicht angenommen, nicht angekommen. Nicht untergegangen, nicht verschluckt, nicht im Blitz verbrannt, nicht an den Felsen zerschellt.
Ich weiß, ich habe festgehalten. Woran? Ich habe keine Ahnung. Womit? Mit meinen Händen. Bevor ich nach den Händen suchen kann, höre ich den Schrei.
Im ersten Moment denke ich, dass ich schon wach bin, dass ich die ganze Zeit wach war, aber ich erwache wahrscheinlich erst von dem Schrei. Sofort fange ich an zu zittern. Der Schrei ist vorbei, doch sein Nachklang hat sich in die Luft gestochen, in meinen schnellen Atem hinein. Ich fahre hoch, setze mich auf die Bettkante. Warte, bis sich die Augen öffnen. Als der Schwindel nachlässt, stehe ich auf und gehe ins Bad. Ich mache das Licht an, drehe den Wasserhahn auf, meine Hände grau in dem hellen Licht. Müde lasse ich meinen Kopf hängen, ins kalte Wasser, in den Kalkgeschmack. Ich muss aufwachen, mich beruhigen, den Schrei vergessen. Ich spritze mir mit den Händen Wasser in die Augen, wasche den Traum weg, greife nach dem Handtuch. Mein Blick fällt in den Spiegel.
Читать дальше