Maya Khoury
Rhododendron
Liebe, Hass, Tod
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Inhaltsverzeichnis
Titel Maya Khoury Rhododendron Liebe, Hass, Tod Dieses ebook wurde erstellt bei
1. Kapitel
2. Kapitel
3. Kapitel
4. Kapitel
5. Kapitel
6. Kapitel
7. Kapitel
8. Kapitel
9. Kapitel
10. Kapitel
Impressum neobooks
Der frühe Morgen des 20. März 1952 versprach, ein schöner sonniger Frühlingstag zu werden. Noch zogen dichte Nebelschwaden über die flache Landschaft, doch wagten sich schon zaghaft einzelne Sonnenstrahlen durch den weißen Nebeldunst. Kaum ein Windzug regte sich. Die Baumkronen der Bäume blieben unbewegt, hatten sie sich doch noch vor ein paar Tagen unter der Kraft der Frühjahrsstürme und der heftigen Regengüsse in alle Richtungen geneigt.
Es war Sonntag und Hinnerk Thomßen war bereits in aller Frühe voller Tatendrang aufgestanden. Seine gute Laune und seine Energie überraschten ihn selbst, galt er doch sonst nicht gerade als arbeitsfreudig. Er fühlte sich so gut wie seit langer Zeit nicht mehr. Vielleicht lag es am Frühling, der wie ein Hauch in der Luft lag? Der endlich den harten Winter überflügelt hatte?
Seine Frau Swantje schlief noch tief und fest und hatte noch nicht einmal bemerkt, dass ihr Mann schon so zeitig aufgestanden war. Denn sie war keine Frühaufsteherin, im Gegenteil, sie würde den halben Tag verschlafen, wenn nicht er, Hinnerk, morgens zur Arbeit müsste. Dann erhob sie sich ein wenig widerwillig und müde gähnend aus den Federn, um ihm Brote für die Arbeit zu schmieren und das Frühstück zuzubereiten.
Sie schien mit schöner Regelmäßigkeit morgens im Halbschlaf zu sein und Hinnerk musste ihr jedes Mal auf die Finger schauen, damit sie nicht Kaffee mit Tee verwechselte. Denn Tee vertrug sein empfindlicher Magen nicht, weil ihm fast ständig übel davon wurde, ganz besonders in der letzten Zeit. Er konnte sich diese körperliche Beeinträchtigung nicht so recht erklären, denn früher galt er als echter Teetrinker. Ein paar eingewickelte Butterbrote und den dünnen ungesüßten Kaffee in einer Warmhaltekanne nahm er in seiner Aktentasche mit zur Arbeit.
Aber heute, am Sonntag, sollte Swantje ruhig länger schlafen. Er hatte nichts dagegen, denn bei seinem geplanten Vorhaben, dem Herausreißen der Rhododendronbüsche auf dem Acker, würde sie ihn nur stören und im Wege herum stehen. Und auf ihre gut gemeinten Ratschläge, die sicher nicht ausbleiben würden, konnte er gut verzichten. Denn meistens wusste sie alles besser.
Hinnerk ging beschwingt zum Fenster, schob die weiße Tüllgardine zur Seite und öffnete es, was er gewöhnlich als erstes tat, wenn er aufgestanden war. Nun ließ er die duftende Frühlingsluft hinein, reckte und streckte sich ausgiebig und atmete ein paar Mal tief durch. Er schaute sinnend hinaus und sah ein Frachtschiff auf dem Kanal langsam, gleichsam wie im Zeitlupentempo, vorbei gleiten. Die Schornsteine auf dem Schiff rauchten und der dunkle Rauch vermischte sich mit dem aufsteigenden Nebel.
Unvermittelt drehte er sich um - als fühle er sich gestört - und horchte in die lautlose Stille hinein. Er glaubte, ein Geräusch gehört zu haben. Aber es war wohl nichts Besonderes. Vielleicht hatten die Dielenbretter in den Räumen oder auf dem Boden geknarrt. Jedoch ein in diesem Augenblick neben ihm Stehender hätte nicht den geringsten Laut vernommen. Das Geräusch war in Hinnerks Unterbewusstsein ausgelöst worden. Es ruhte in den dunklen Nischen seines Unterbewusstseins und verschwand ebenso schnell wie es entstanden war. Später sollte er sich wieder an dieses Geräusch erinnern. Aber in jenem Moment dachte er sich nichts dabei und nahm es nicht bewusst auf.
Hinnerk wandte sich noch einmal dem Fenster zu und sah wieder hinaus. Der weiße Frühnebel auf Wiesen und Äckern löste sich langsam auf. Kleine Nebelfetzen flogen sachte und federleicht über den flachen Landstrich und zerstoben, je höher sie schwebten, ins Nichts. Hinnerk sah zum Himmel hinauf, der bereits zartblau leuchtete. Eine blasse Sonne kämpfte sich durch die träge dahin ziehenden Wattewölkchen, die zwar noch nicht wärmte, aber zumindest Himmel und Erde mit ihren Strahlen erhellte.
Mit dem Frühling kehrten die Farben zurück, die der Winter geraubt hatte. In den letzten Monaten war alles grau gewesen, sogar die Luft war Hinnerk grau erschienen.
Auch die ersten Singvögel waren schon aus dem sonnigen Süden zurückgekehrt und schmetterten nun auf den blühenden Kirsch- und Apfelbäumen ihre fröhlichen Melodien. Aus der Ferne vernahm er das Keckern einer Elster. Sein Gesicht nahm einen ärgerlichen Zug an. Besäße er ein Luftgewehr, würde er schon einige dieser gierigen Nesträuber erschossen haben. Aber er besaß keines. Er sollte sich vielleicht doch ein Luftgewehr besorgen, dachte er. Ein beruhigendes Gefühl beschlich ihn. Bei diesem Gedanken entspannten sich seine Gesichtszüge und er konzentrierte sich wieder auf die friedliche Landschaft.
Er beobachtete nun ein kleines Eichhörnchen, das sich hierher verirrt hatte und mit affenartiger Geschwindigkeit in den Ästen der Bäume herumturnte. Eine trällernde Amsel auf dem Baum fühlte sich in ihrer Ruhe beeinträchtigt und kam aus dem Takt. Sie unterbrach für Sekunden ihr Lied und flog, heftig mit ihren schwarzen Flügeln schlagend, eilig davon, um auf dem nächsten Baum fröhlich weiterzuzwitschern.
Der von allen Menschen herbei ersehnte Frühling hat in diesem Jahr nun endlich seinen Einzug gehalten, dachte Hinnerk zufrieden, sah man von den starken Regenfällen ab, die sich noch vor einer Woche sintflutartig über das Land ergossen hatten. Äcker und Wiesen waren Tage lang hinter einem grauen durchsichtigen Regenvorhang nur verschwommen zu erkennen gewesen.
Der Winter hatte schon vorher ziemlich hart gewütet. So viel dichter Schnee wie im Januar und Februar 1952 war lange nicht gefallen. Es hatte Tage gegeben, da war ein Fortkommen wegen des hohen Schnees für ihn und Swantje kaum möglich gewesen. Der Schnee war stetig gefallen und hatte über die Landschaft hinweg gefegt. Auf dem Schotterweg, der neben dem Kanal vorbei führte und daher den Namen Kanalweg trug, wurde der Schnee kaum geräumt. Und einen anderen Weg, in die Stadt zu gelangen, gab es nicht. So mussten sie beide gezwungenermaßen ein paar Tage zu Hause ausharren. Zum Glück hatten sie sich schon vorher mit Lebensmitteln und anderen Dingen, die sie zum Leben benötigten, eingedeckt. Und Hinnerk hatte der viele Schnee ein paar arbeitsfreie Tage beschert, die seiner sprichwörtlichen Faulheit zugute kamen. Aber sein Lohn war natürlich gekürzt worden. Das hatte Hinnerk als ziemlich kleinlich empfunden.
Für heute aber hatte sich er viel vorgenommen. Heute würde er sich nicht auf die faule Haut legen, sondern endlich die alten Rhododendronbüsche, die an seinem Kartoffelacker grenzten, ausgraben. Dann könnten sie auf der neu gewonnen Ackerfläche Bohnen und Zuckererbsen anpflanzen, denn das Ernten von Gemüse war in diesen schlechten Zeiten so kurz nach dem Krieg und nach der letzten Währungsreform wichtiger als die Ansicht von prachtvollen rosa und lila Blumen.
Trotzdem würde ihm das Herausreißen der seinerzeit von seinem Vater angelegten Rhododendronbüsche nicht leicht fallen, entfalteten sie doch in jedem Frühling ihre farbenprächtige Blütenpracht. Das Graben könnte durch den aufgeweichten Boden, der durch die Regenmassen entstanden war, vom Kraftaufwand her ziemlich anstrengend werden. Aber er war fest entschlossen, dieses Werk, das so oft hinausgeschoben worden war, selbst schon zu Zeiten seines Vaters, nun endlich in Angriff zu nehmen. Hinnerk steckte heute Morgen voller Energie und konnte es kaum abwarten, die Schaufel in die Hand zu nehmen und zu graben. Sein Arbeitseifer schien ungebremst, aber auch sehr ungewöhnlich.
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