Viel später sollte sich jedoch durch einen Zufall herausstellen, dass Oskar Marakow zwar auf einem Gut aufgewachsen, doch seine Mutter eine Dienstmagd aus Pommern gewesen war und den Gutsherren auf dem Gut „Kamenka“ in der Nähe von Insterburg gedient hatte.
Sein Vater, ein russischer Pferdehändler, hatte sich kaum um Frau und Sohn gekümmert und sie schon früh verlassen. Oskars Mutter musste fortan zusehen, wie sie sich und ihren Sohn allein durchbrachte.
Angeblich waren seine Eltern nicht einmal miteinander verheiratet gewesen. Diesen dunklen Punkt in seinem Leben als auch seine wahre Herkunft verschwieg Oskar den anderen gegenüber, weil sein Stolz und seine Großmannssucht diesen unüberwindbaren Makel nicht zuließen. Ebenfalls ging das Gerücht um, er habe bei der Fremdenlegion gedient. Aber bestätigen konnte dieses Gerede niemand. Vielleicht waren es auch nur Klatschgeschichten, eine von vielen, die sich um den schönen Oskar rankten und kein Ende nahmen.
Jedoch wollte es niemand mit ihm verderben und man hörte ihm geduldig zu, wenn er sich wieder einmal in den höchsten Tönen über die ostpreußische Landschaft ausließ und förmlich in Erinnerungen über „das Gut seiner Eltern“ schwelgte. Denn Oskar belohnte sie mit Geschenken, die er aus seiner Aktentasche zauberte, welche er immer mit sich führte und niemals irgendwo vergaß. Und Oskar verstand es zu leben, sogar ausnehmend gut zu leben. Er hielt sich mal hier und mal dort auf. Und er brachte Hinnerk und Swantje bei seinen Besuchen, die zuletzt immer häufiger wurden, unschätzbare Kostbarkeiten mit: Zigaretten, Pfeifentabak oder den echten Bohnenkaffee, mal Dosen mit Ananas, Corned beef und Rindfleisch, oder Schokolade und andere Luxusartikel wie wohlriechende Seifen oder Duftwasser für Swantje. Die Schokolade hatte seine Frau auf der Stelle mit Vergnügen verspeist. Sie konnte gar nicht genug davon bekommen, denn sie war wild nach dem süßen Zeug, welches Hinnerk verabscheute, denn er bevorzugte seinen einfachen Pfeifentabak. Er war überhaupt sehr genügsam und begnügte sich mit wenigen Dingen, sah man einmal vom Alkohol ab, dem er nicht entsagen konnte.
Ja, Oskar organisierte Dinge, die sie zwar in der entbehrungsreichen Zeit vermissten, aber nicht unbedingt für ihren Lebensunterhalt benötigten. Aus welchen Quellen der großzügige Freund seine Geschenke bezog, mochte Hinnerk lieber nicht wissen. Und er hatte ihn nie danach gefragt. Hinnerks Bedenken gegen diese Art von Geschenken wurden von Swantje rigoros beiseitegefegt. Sie liebte die überraschenden Mitbringsel und mochte diese nicht mehr missen. Aber er hätte liebend gern auf dessen häufigen und für ihn sogar lästigen Besuche verzichtet. Der Grund für seine abwehrende Haltung sollte ihm später klar werden.
Einmal legte Oskar für seine Frau sogar ein Paar hauchdünne Nylonstrümpfe mit dunkler Naht, eingepackt in weißem Seidenpapier, auf den groben hölzernen Küchentisch und schaute sie erwartungsvoll an. Swantje war vor Freude rot geworden und freute sich unbändig über die schönen Strümpfe, mit denen sie ordentlich angeben könnte. Sie hatte auf der Stelle ihre grau gemusterte Kittelschürze an den Türhaken gehängt und war rasch in der kleinen Schlafkammer nebenan verschwunden. Dann kam sie stolz wie ein Pfau wieder heraus, gekleidet in ihrem blauen Sonntagskleid mit dem großen weißen Kragen und den durchsichtigen Strümpfe an ihren hübschen Beinen. Diese hatte sie sich vorsichtig mit Handschuhen, um ja keine Ziehmaschen oder gar Laufmaschen entstehen zu lassen, übergestreift. Nur die klobigen braunen Laufschuhe passten nicht so recht zu ihrer Aufmachung. Aber Oskar war von ihrem Anblick begeistert und lobte ihr Aussehen in den höchsten Tönen. Er versprach, auch noch feine weiße Stöckelschuhe aufzutreiben, die er beim nächsten Mal mitbringen wollte. Vielleicht auch einen passenden dunkelblauen Mantel für das Kleid und einen großen Hut.
„Du wirst aussehen wie eine Gutsherrin,“ versprach er damals Swantje eine Spur zu protzig, „ich werde dich mit neuen Sachen ausstaffieren und jeder wird dich darum beneiden.“ Dabei hatte er einen provozierenden Seitenblick auf Hinnerk geworfen.
Doch sollte es dazu nicht mehr kommen. Und Hinnerk hätte damals am liebsten geantwortet, dass er bleiben solle wo der Pfeffer wächst. Swantje gefiel ihm auch so, ohne dass sie wie eine Gutsherrin aussah. Jedoch seiner Frau gefielen die Sachen und sie wollte sie nicht mehr missen. Aber die Wahrheit war wohl: Sie wollte Oskar nicht verlieren, dachte Hinnerk zu jener Zeit, als Oskar sie noch regelmäßig besuchte.
Damals war Hinnerk fast vor Eifersucht geplatzt, als er Oskars hungrige Blicke bemerkte, mit denen er Swantje, gekleidet in ihrem schönen Sonntagsstaat und den durchsichtigen Strümpfen an ihren Beinen, verschlang. Spielte sich da vor seinen Augen etwas ab? Von da ab beobachtete er die beiden voller Argwohn. Hinnerks Misstrauen gipfelte in kalte Wut, die er aber mühsam hinunterschluckte und vor den anderen sorgsam verbarg. Doch des Nachts lag er stundenlang wach und sann auf Rache.
Oskar würde Swantje niemals bekommen, dafür würde er, Hinnerk, schon sorgen.
Und bei diesem Gedanken fiel er dann in einen unruhigen Schlaf und wachte am folgenden Morgen gerädert und mit blutunterlaufenen Augen auf. Und völlig unausgeschlafen und unausstehlich.
Aber eines Tages war Oskar Marakow spurlos verschwunden, als hätte ihn die Erde verschluckt. Oskars Freunde, und derer gab es natürlich eine ganze Menge – denn sie alle hatten von Oskars Großzügigkeit profitiert - machten sich keine großen Gedanken über sein plötzliches Verschwinden. Reisende soll man nicht aufhalten, meinten sie gleichmütig und gingen zur Tagesordnung über. Oskar hatte es doch nie lange an einem Ort ausgehalten. Sicher vergnügte er sich nun an einem anderen Ort. Einzig allein Oskars unbezahlbaren einzigartigen Kostbarkeiten aus seiner Aktentasche trauerten sie ein wenig nach. Und vielleicht auch seinem geselligen Wesen, jedoch schien ihnen ersteres wichtiger gewesen zu sein, denn Oskars Luxusartikel hatten ihr Leben um einiges bereichert und ihr bescheidenes und armseliges Dasein teilweise in den Hintergrund rücken lassen.
Manche erzählten sich sogar, Oskar habe in Bremerhaven ein Schiff bestiegen und sei nach Amerika ausgewandert. Andere wiederum wollten ihn in Bremen gesichtet haben. Helmut Harms, ein Kleinbauer aus dem angrenzenden Dorf, wollte ihn sogar mit einer jungen gut gekleideten Dame in der Kreisstadt gesehen haben. Obwohl man ihn kräftig auslachte, war er davon nicht abzubringen gewesen. Er behauptete stur, dass Oskar sogar einen Arm um die hübsche Dame gelegt hatte und mit ihr in aller Öffentlichkeit auf einer belebten Straße in der Nähe des Marktplatzes spazieren gegangen war. Woher er das wusste? Der Bauer hatte in der Kreisstadt eine Kaninchenzüchterausstellung besucht. Die Leute aber glaubten ihm nicht, denn es war nicht das erste Mal, dass Bauer Harms ihnen Lügengeschichten aufgetischt hatte. Er nahm das nie so genau und wenn seine Fantasie mit ihm durch ging, war er nicht mehr zu bremsen. Wie dem auch sei: die Gerüchte um Oskar wollten kein Ende nehmen. In Wahrheit wusste aber niemand etwas Konkretes über seine plötzliche Abwesenheit. Und Oskar war nicht wieder aufgetaucht. Die Gerüchte verstummten schließlich, weil sich die Leute wichtigeren Dingen zuwandten.
Ungeheuer wichtig in den Augen der Leute war der tragische Vorfall des armen Fräulein Degenhardt aus ihrem Dorf, der sich kurz danach zugetragen hatte. Fräulein Degenhardt hatte sich in einen britischen Soldaten verliebt und sich mit ihm eingelassen. Schon kurze Zeit später wurde sie schwanger. Die Leute zerrissen sich das Maul über dieses leichtsinnige Mädchen, die in ihren Augen natürlich als Hure galt. Sie war achtzehn Jahre alt und demzufolge noch nicht volljährig. Ihre Eltern hatten nichts anderes zu tun, als ihre Tochter in ihrem schwangeren Zustand vor die Tür zu setzen. Es war doch eine Schande, was ihnen ihre Tochter angetan hatte. Sie selbst wagten sich wochenlang nicht mehr auf die Straße, denn sie spürten förmlich die Blicke der anderen Leute auf sich ruhen und bildeten sich ein, das Getuschel hinter ihrem Rücken zu hören. Aber sie hatten ihre Pflicht getan und sich reingewaschen, indem sie ihrer Tochter die Leviten gelesen und sie praktisch hinaus geworfen hatten. Das gehörte schließlich zu ihrer heiligen Christenpflicht. Mehr konnten sie nicht tun. Nicht verschweigen sollte man in diesem Zusammenhang auch, dass die Familie einer streng religiösen Sekte angehörte. Und ihre Tochter hatte gegen ihre Regeln verstoßen.
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