Swantje wunderte sich über die besonders gute Laune ihres Mannes, wusste aber, dass sich das von einer Minute zur anderen ändern könnte. So war es immer gewesen, zumindest in den letzten paar Jahren. Manchmal wurde sie das Gefühl nicht los, in Hinnerk wohnten zwei Seelen. Aber trotzdem äußerst erleichtert und froh über seine momentane Ausgeglichenheit zog sich Swantje wieder in ihr Bett zurück, um noch eine Runde zu träumen. In ihren Träumen erschien ihr das Leben heiter. Losgelöst von allen Erschwernissen des Alltags. Ihre Träume verliehen ihr Flügel und sie träumte sich fort. Gemeinsam mit Oskar verlor sie sich in trügerische Visionen.
Sicherheitshalber stellte Swantje zwei große laut tickende Wecker, damit sie rechtzeitig wach wurde, um das Frühstück vorzubereiten. Hinnerk fand das Uhrenstellen reichlich übertrieben. Fast beneidete er seine Frau um ihren tiefen Schlaf, denn in letzter Zeit schlief er unruhig und wachte fast stündlich auf. Dabei hatte er früher wie ein Murmeltier geschlafen und nichts hatte ihn in seinem tiefen Schlaf stören können. Aber die letzte Nacht hatte er gut geschlafen und war nicht ein einziges Mal aufgewacht. Vielleicht blieb das ja so. Vielleicht hatte er ja diese Phase überwunden.
Nachdem er den heißen Kaffee hinuntergestürzt hatte, der irgendwie nach bitterem Spülwasser schmeckte – oder kam ihm das nur so vor? - zog sich Hinnerk seine Jacke an, setzte die Mütze auf und stiefelte den kurzen Weg hinunter zu seinem Acker. Er schloss den Schuppen auf, schlüpfte in seine an der Holzwand hängenden Holzschuhe und zog sich schließlich seine Arbeitskleidung über. Dann nahm er sich einen großen Spaten und eine Hacke, um damit zu beginnen, die zahlreichen Büsche auszugraben. Doch vorher ruhte er sich noch ein wenig aus und setzte sich auf einen großen Stein am Rande des Grabens. Er erfreute sich an dem schönen Frühlingstag, der langsam aufzog. Der Nebel hatte sich verzogen und vereinzelte Sonnenstrahlen, die sich zaghaft hervor gewagt hatten, kitzelten sein Gesicht. Die Ruhe, die ihn plötzlich überkam und die er später so schmerzlich vermissen sollte, veranlasste ihn zu der Überlegung, ob er nicht doch diese Arbeit verschieben und sich zu Swantje ins Bett legen sollte. Diese Vorstellung war ziemlich verlockend. Dennoch stand er entschlossen auf und machte sich an die Arbeit. Schließlich hatte er sich dieses Werk vorgenommen und würde es nun auch in Angriff nehmen. Wüsste er jedoch in diesem Augenblick, dass ihn ein Albtraum erwartete, hätte er sich doch lieber zu seiner Frau ins Bett gelegt.
Tatsächlich war der Boden durch die heruntergekommenen Regenmassen ziemlich matschig und Hinnerk musste sehr viel Kraft aufwenden, um die Wurzeln der Büsche mit der Hacke zu erfassen. Im Stillen wunderte es ihn, dass sein Vater eine so große Fläche vergeudet und nicht als Ackerfläche genutzt hatte. Kopfschüttelnd blickte er auf das Unkraut, das neben den Büschen wild wucherte und sich jedes Jahr weiter ausbreitete, so sehr sich Hinnerk und Swantje auch bemühten, dem Unkraut Herr zu werden. Sogar den Kartoffelacker hatte das lästige Unkraut schon erfasst. Hinnerk erinnerte sich vage, dass sein Vater die Rhododendronbüsche vehement verteidigt und sich immer gegen eine Nutzung als Ackerfläche entschieden hatte. Warum war sein Vater die ganzen Jahre über so stur geblieben? In Gedanken bat er seinen Vater um Verzeihung, als er wie ein Wilder an den Büschen zu zerren begann. Aber der war seit Jahren tot und bekam diesen Gewaltakt glücklicherweise nicht mehr mit.
Hinnerks Gedanken schweiften beim Graben wieder in die Vergangenheit zurück. Er dachte plötzlich an seinen Vater, der es in seinem Leben nicht leicht gehabt hatte. Seine Familie erlebte ihn als stillen schweigsamen Menschen, der nie ungerecht oder gar ausfallend geworden war. Sein Vater erlebte zwei Weltkriege. Mit kaum vierundzwanzig Jahren wurde er im September 1914 als verheirateter Mann und Vater eines kleinen Sohnes als Soldat an die Front geschickt. Er kämpfte bis Juli 1916 in der Schlacht um Verdun um sein Überleben. Aus dieser Schlacht kehrte sein Vater als gebrochener Mann zurück und brauchte mindestens drei Jahre, um sich von den Schrecken der Kriegsjahre zu erholen. Während des Krieges war er durch einen Granatsplitter verwundert worden. Der Granatsplitter steckte in seinem Gehirn und war inoperabel. Aus diesem Grund litt sein Vater Zeit seines Lebens unter ständig wieder kehrenden Kopfschmerzen, die besonders bei einem Wetterumschwung oder bei seelischen und körperlichen Belastungen in aller Heftigkeit auftraten. Als der zweite Weltkrieg ausbrach, war sein Vater fast fünfzig Jahre alt und blieb aufgrund seiner körperlichen Behinderung davon verschont, auch in diesen Krieg eingezogen zu werden.
Aber auch seiner Mutter war nichts erspart geblieben. Sie hatte vier Kinder großgezogen. Zwei ihrer Kinder waren im frühkindlichen Alter gestorben, eines an Kinderlähmung und eines an einer Sepsis. Zwei Söhne, Gustav und Herbert, verloren Hinnerks Eltern im zweiten Weltkrieg. Beide waren zunächst in Russland vermisst. Später erfuhren sie, dass sie gefallen waren. Den genauen Ort in Russland hatten sie nie erfahren. Seiner Mutter hatte der Verlust das Herz gebrochen. Hinnerk wusste jedoch in diesem Augenblick noch nicht, dass seiner Mutter vielleicht noch ein furchtbares Ereignis aus der Bahn geworfen hatte. Eines, an dem sie mit Sicherheit zerbrochen war.
Einen Augenblick lang stützte er sich auf seinen Spaten und ruhte sich aus. Dann grub er weiter. Bei der stupiden Arbeit des Grabens kamen Hinnerk viele Gedanken in den Sinn. Gedanken, von denen er glaubte, sie schon längst vergessen zu haben. Nun waren sie wieder lebendig geworden und beanspruchten sein ganzes Denken und Fühlen. Doch plötzlich wurde er abrupt aus seinen Überlegungen gerissen, als er überraschend mit dem Spaten einen Widerstand gewahrte. Es ist sicher wieder ein Stein, dachte er ärgerlich, denn Steine gab es hier reichlich, und er grub nun ein wenig tiefer und beugte sich, indem er sich mit beiden Händen auf den Griff seines Spatens stützte, neugierig über die dunkle feuchte Erde.
Sofort zuckte er entsetzt und bis ins Mark erschrocken zurück. Er warf vor Schreck den Spaten auf den Acker. Kalter Angstschweiß brach ihm aus allen Poren. Hinnerk konnte nicht glauben, was er sah und rang mühsam um seine Fassung. Er keuchte laut und atmete unregelmäßig. Herzklopfend blickte er hoch, als erwarte er, das Grauenhafte würde sich auf der Stelle in Luft auflösen. Aber es tat ihm nicht den Gefallen und verschwand natürlich nicht. Es ragte aus der dunklen Erde heraus wie ein mahnendes Zeichen.
Krampfhaft zwang er sich, noch einmal hinzublicken und wich nun ruckartig mit bestürzter Miene einen Schritt zurück, so dass er fast auf dem matschigen Boden ausgerutscht wäre. Dabei verlor er seinen rechten Holzschuh, der sich im feuchten Matsch festgesogen hatte, was er in seiner Panik nicht einmal bemerkte.
Vor ihm lagen die skelettieren Knochen einer Menschenhand. Es gab keinen Zweifel: Er hatte nicht nur die Wurzeln der Rhododendronbüsche, sondern auch die Hand eines Menschen ausgegraben! Hinnerk wusste nicht, wie lange er auf den grausamen Fund gestarrt hatte, hörte nicht das ungeduldige Tuten eines Schiffes auf dem in der Nähe liegenden Kanal, sah nicht, wie der Schleusenwärter aus seinem Haus eilte, um die Schleusenbrücke zu öffnen, damit der Lastkahn passieren konnte. Er bemerkte auch nicht die Kinder auf dem Schiff, die ihm von weitem fröhlich zuwinkten. Hinnerk hatte sich hingesetzt und stierte nur blicklos ins Leere, seinen Kopf mit den Händen stützend. Das einzige, was er vernahm, war die Stimme in seinem Inneren. Er schlug die Hände über seine Ohren, um sie zum Schweigen zu bringen, diese unheilvolle Stimme, die laut in seinen Ohren nachklang: Du hast ihn umgebracht! Du bist der Mörder von Oskar Marakow! Hatte er tatsächlich so ein schweres Verbrechen begangen? Er wusste es nicht, denn er konnte sich mit dem besten Willen nicht mehr erinnern. Oder wollte er das gar nicht? Plötzlich schien ihm, als tauche ein dichter Nebelschleier vor ihm auf und hülle ihn ein. Wie gerne wäre er in dieser Hülle verblieben. Doch löste sich der Nebel langsam wieder auf.
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