Er verdingte sich als Hilfsarbeiter für ein paar Mark auf der Bootswerft in der nahe gelegenen Stadt. Vor dieser Tätigkeit war er als Helfer in der Kammgarnspinnerei beschäftigt gewesen. Es war nicht viel Geld, das Hinnerk mit nach Hause brachte. Er arbeitete als ungelernter Arbeiter und verdiente nicht viel, aber immerhin reichte es, um einigermaßen über die Runden zu kommen. Denn einen
Beruf hatte Hinnerk nie erlernt. Dazu war er nie gekommen, wie er sich selbst einredete. Hinter dem Haus hielten sie sich außerdem noch ein paar Kaninchen in einem von Hinnerk selbst gezimmerten Kaninchenstall. An den Festtagen labten sie sich dann an einem saftigen Kaninchenbraten, denn Fleisch war in diesen Zeiten meistens knapp. Er erinnerte sich in diesem Augenblick schmunzelnd, als Swantje vor ihrem vollem Teller saß und keinen Bissen anrührte. Er hatte ihr Lieblingskaninchen namens „Othello“ geschlachtet, das schwarze mit den weißen Flecken am Hals. Aber später bekam sie doch Hunger und hatte sich abends den Braten
auf dem Ofen wieder aufgewärmt und mit heftigem Widerwillen ein paar Happen probiert. Seitdem benannte Swantje kein Kaninchen mehr mit Namen, weil sie glaubte, das Schlachten dieser kuscheligen Tiere mache ihr dann nichts mehr aus. Das erwies sich jedoch als Trugschluss, denn ihre Abneigung gegen Kaninchenbraten hatte sich nie so richtig gelegt. Hinnerk aber hatte sich danach gefragt, warum sie sich eigentlich Kaninchen hielten. Seine Frau stellte sich jedes Mal so kindisch an, wenn der duftende Kaninchenbraten auf dem Tisch stand. Irgendwann würde er sie alle schlachten und auf dem Markt
verkaufen. Oder er könnte sie als lebende Tiere anbieten? Ansonsten lebten sie von dem, was ihr Acker hergab: das waren in erster Linie Kartoffeln, außerdem Kohlrabi, Steckrüben, Zwiebeln, Radieschen, Tomaten, Blattspinat und nun wohl auch bald Zuckererbsen und Bohnen, wenn er erst einmal die Rhododendronbrüsche herausgerissen hatte und den Boden neu bepflanzen konnte.
Ein paar Hüher in einem provisorisch gebauten Hühnerstall, unmittelbar neben dem Plumpsklo, hatten sie auch noch, wenn diese auch nicht so legefreudig waren, wie sie sich das ausgemalt hatten. Vielleicht lag es ja am Hühnerfutter. Bei nächster Gelegenheit würde er seinen Bruder Hermann einmal fragen. Hermann und seine Schwägerin Martha betrieben einen großen Bauernhof in einem kleinen Dorf. Sein Bruder hielt sich natürlich auch Hühner und verkaufte die Eier auf dem Markt; er züchtete sogar eine neue Hühnerrasse. Hermann wusste immer einen Rat und sicher auch einen wegen ihrer faulen Hühner. Beim nächsten Besuch würde er ihn danach fragen.
Er überlegte, dass Swantje auch noch ein kleines Feld mit Erdbeeren anlegen könnte. Pflanzen und Ernten gehörten normalerweise zu ihrer Aufgabe. Aber dann fiel ihm ein, dass Swantje gegen Erdbeeren allergisch war und Ausschlag bekam und verwarf diesen Einfall sofort wieder.
Hinnerk unterbrach seinen Gedankengang und löste sich langsam von dem friedvollen Anblick, der sich ihm vom Fenster aus bot, und machte sich nun an dem gusseisernen Ofen zu schaffen. Der Ofen stand auf vier Füßen und besaß vorne eine Klappe zum Nachfüllen der Feuerung und ganz unten eine Lade, die die Asche auffing. War die Lade gefüllt, zog man sie heraus, um die Asche zu entsorgen.
Er nahm nun die Ofenzange vom Haken und schob die Ofenringe auf der Ofenplatte, die ein klirrendes Geräusch verursachten, auseinander. Die Ofenplatte bot Platz für drei Töpfe. Die Asche glomm zum Glück noch und er legte ein paar unweit des Ofens gestapelte trockene kleine Holzscheite in die schwach glimmende Glut. Gierig züngelten die Flammen am Holz entlang und Hinnerk griff sich ein zwei große Torfstücke aus der Torftruhe, die neben dem Ofen stand, und schob sie vorsichtig zu dem Holz. Später würde er noch ein bis zwei Schippen mit Koks oder Eierkohlen nachlegen. Die Briketts waren ihnen ausgegangen, weil sie nicht mit dem strengen Winter gerechnet hatten. Sie warteten bereits täglich auf den Kohlenhändler, der tatsächlich längst überfällig war. Schon bald flackerte ein lustiges Feuer im Ofen. Nun schob Hinnerk die Ofenringe mit der Zange wieder über das offene Feuer und setzte einen Blechtopf mit Wasser auf, um sich endlich Kaffee zu kochen.
Natürlich nur den Ersatzkaffee, auch Muckefuck genannt, und keinen Bohnenkaffee. Den gab es nur an besonderen Festtagen wie etwa Weihnachten oder Ostern. Und, ja richtig, als er und Swantje noch mit Oskar Marakow befreundet waren, einem Flüchtling aus Ostpreußen, genossen sie den Bohnenkaffee fast täglich, weil Oskar immer für Nachschub sorgte. Swantje hatte dann die hölzerne bunt bemalte Kaffeemühle aus dem Küchenschrank geholt und die frischen Bohnen gemahlen. Bald darauf duftete die ganze Wohnküche nach frisch gemahlenem Kaffee. Aber das war vor fünf Jahren und die schönen sorglosen Zeiten nun längst vorbei. Trotzdem schien Hinnerk froh über Oskars Fernbleiben zu sein, denn der war ihm eigentlich immer ein Dorn im Auge gewesen. Er hatte ihn nie so richtig gemocht. Wenn er jedoch ehrlich gewesen wäre – aber das war er wohl nicht - hatte ihn das lästige Gefühl der Eifersucht, das in seinen Wahnvorstellungen herrschte und von ihm Besitz ergriff wie eine Kompanie lästiger Flöhe, davon abgehalten, Oskar zu mögen. Denn jeder mochte dessen sonniges Gemüt. Es gab niemanden, der sich nicht von ihm betören ließ. Oskar Marakow verbreitete überall gute Laune und machte sich, wohin ihn seine Wege auch führten, bei allen Menschen ungemein beliebt und unentbehrlich. Über seine Oberflächlichkeit – er war sprunghaft und leichtsinnig - sah man eben großzügig hinweg. Bei der Erinnerung an Oskar umwölkte sich Hinnerks Stirn. Er sah den schönen Oskar in Gedanken wieder vor sich: Das glänzende schwarze Haar, mit Hilfe von reichlich Pomade glatt nach hinten gekämmt, strahlend blaue Augen und immer ein betörendes Lächeln auf den Lippen. Meistens trug er gut sitzende dunkle Anzüge, blütenweiße Hemden und einen hellgrauen Hut. Hinnerk musste neidvoll zugeben, dass Oskar ein gut aussehender Mann war. Er ähnelte einem amerikanischen Schauspieler zum Verwechseln. Das Bild hatte er einmal in einer von Swantjes Zeitschriften gesehen. Der Name des Schauspielers war ihm entfallen und Hinnerk wunderte sich darüber, vergaß er doch sonst nie Namen oder Orte. In letzter Zeit war ihm aufgefallen, dass er vieles, auch alltägliche Dinge, vergaß. Um auf Oskar zurückzukommen: Er war eben ein typischer Frauenschwarm und das wusste dieser, denn er war zudem ziemlich eitel und pflegte sich von Kopf bis Fuß. Er ging sogar einmal in der Woche in die öffentliche Bäderanstalt in der Stadt, um sich dort ein Vollbad zu gönnen. Dafür benutzte er französische Seife. Nach dem Bad sprühte er sich mit einem teuren Herrenparfüm ein und verströmte einen für die Damenwelt unwiderstehlichen Duft. Hinnerk hatte nichts mehr als diese Parfümwolke gehasst, denn er musste jedes Mal kräftig niesen, wenn sich Oskar wieder einmal eingenebelt hatte. Aber Swantje mochte das Parfüm. Und Hinnerk entwickelte eine immer stärker werdende Aversion gegen Oskar. Eine Aversion, die er nicht mehr kontrollieren konnte.
Es hieß sogar, dass die Frauen dem schönen Oskar in Scharen nachliefen. Aber in Hinnerks Augen schien er ein zwielichtiger Typ zu sein. Über Oskar Marakow erzählte man sich hinter vorgehaltener Hand, er würde krumme Geschäfte mit amerikanischen Soldaten machen. Auch solle er auf dem kräftig blühenden Schwarzmarkt ordentlich mitmischen. Aber niemand wusste etwas Genaues über ihn. Hinnerk war nicht einmal bekannt, ob Oskar überhaupt im Krieg gekämpft hatte. Sicher hatte er sich erfolgreich vor dem Feld gedrückt. Dass dieser Umstand auch für ihn selbst zutraf, hatte er völlig vergessen oder wollte ihn nicht wahrhaben.
Auch über Oskars Familie war nichts bekannt. Man wusste nicht einmal, ob er überhaupt noch Familienangehörige besaß. Oskar wohnte seinen Angaben zufolge zuletzt in dem ehemaligen Königsberg und war angeblich in der Nähe von Insterburg, nahe der litauischen Grenze, auf einem Gut aufgewachsen. Er schwärmte bei jeder sich bietenden Gelegenheit von seiner Heimat mit den blühenden Rapsfeldern, den wilden Lupinen, wogenden Kornfeldern und den dichten grünen Wäldern. Zuletzt konnte es niemand mehr hören. Keiner gab dies jedoch Oskar gegenüber offen zu, sondern jeder wappnete sich mit Geduld und lächelte geduldig zu Oskars Geschichten, die er jedes Mal mit einzelnen Details üppiger ausgestaltete.
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