Auf der feuchten Erde sitzend kramte er in der Dunkelheit seines Unterbewusstsein und holte Dinge hervor, die ihn über alle Maßen in Angst und Schrecken versetzten. In blitzartiger Folge erschienen vor seinen Augen Bilder und verschwanden genauso schnell wieder wie sie gekommen waren. Das eine Mal saß er mit Oskar friedlich im Gras am Rande des Grabens und sie tranken beide abwechselnd aus einer Flasche Korn und amüsierten sich prächtig, indem sie sich Männerwitze und lustige Episoden aus ihrem Leben erzählten. Besonders Oskar schien schon viel erlebt zu haben und Hinnerk musste sich fast vor Lachen den Bauch halten, als er dessen heiteren Eskapaden lauschte. Er hatte nicht gewusst, wie fröhlich Oskar sein konnte, denn er war ihm ja fast immer nur aus dem Wege gegangen. Das würde er von nun an ändern, beschloss er auf der Stelle, denn so ein schlechter Kerl war Oskar doch gar nicht. Alle mochten ihn doch. Warum nicht auch er? Dann sah er sich mit ihm ziemlich betrunken auf dem Acker raufen. Aber an den Grund ihres Streites erinnerte er sich nicht mehr. Er spürte plötzlich einen spitzen Schmerz in seinem rechten Kiefer, noch heute, als ob Oskar ihm den Faustschlag gerade eben erst versetzt hätte. Das Bild verschwand jedoch in Sekundenschnelle. Hinnerk wollte es festhalten, aber sein Unterbewusstsein schien sich zu sträuben und wehrte sich mit aller Macht, die Wahrheit ans Tageslicht kommen zu lassen. Sein Blick fiel auf die großen Steine, die am Graben verstreut lagen. Hatte er Oskar mit einem solchen Stein den Schädel zertrümmert? Das Bild wollte sich nicht einstellen. Eine vage Ahnung beschlich ihn aber. Was war vor fünf Jahren an dieser Stelle geschehen? Es fiel ihm einfach nicht mehr ein, was damals geschehen war, so sehr er auch bestrebt war sich zu erinnern.
Hinnerk saß versunken auf der Erde und dachte darüber nach, was sich vor fünf Jahren auf seinem Acker ereignet hatte.
„Moin Hinnerk, schon so früh am Arbeiten? Und das an einem Sonntag?“ hörte er plötzlich die laute Stimme des Schleusenwärters Johann Mehrings aus der Ferne, der die Schleusentore wieder geschlossen hatte und nun wieder auf dem Weg zu seinem Haus war. Der Schleusenwärter wohnte mit seiner Frau und einem Kleinkind in dem so genannten Schleusenwärterhaus und waren ihre einzigen unmittelbaren Nachbarn. Näheren Kontakt zu der Familie hatten sie aber nicht. Johann Mehrings winkte ihm nun mit beiden Händen zu und schrie noch etwas zu ihm hinüber, was Hinnerk jedoch, weil er so in Gedanken versunken gewesen war, nicht verstanden hatte.
Doch nun schrak er entsetzt zusammen und Hinnerk erspähte den Schleusenwärter aus der Ferne, der heftig mit seinen Armen gestikulierte. Aber seine einzige Sorge galt der skelettieren Hand, die genau im Blickfeld des Schleusenwärters lag. Doch aus der Entfernung konnte Johann Mehrings unmöglich seinen ausgegrabenen grausigen Fund erkannt haben. Das hoffte er jedenfalls inständig. Sein Gesicht aber drückte Zweifel aus.
„Muss ja,“ beeilte sich Hinnerk mit heiserer Stimme zu rufen, stand sofort auf und nahm den Spaten wieder in die Hand. Er tat, als ob er beflissen weitergraben würde, bis der Schleusenwärter wieder in seinem Haus verschwunden war. Hatte der der Mann wirklich nichts mitbekommen? Plötzlich bezweifelte er das. Er suchte seinen rechten Holzschuh, den er vorhin verloren hatte, fand ihn halb vergraben im Matsch, und schlüpfte mit seiner von der Erde verschmutzten Socke hinein. Seine Füße waren eiskalt. Dann bemühte er sich, mit zitternden Händen und schlotternden Knien wie unter einem inneren Zwang stehend tatsächlich weiterzugraben. Kalte Schweißperlen standen ihm immer noch auf der Stirn. Er wischte sie mit dem Handrücken weg.
Plötzlich stieß er mit dem Spaten auf einen skelettierten Totenschädel! Halb verdeckt von der dunklen Erde schien er ihn grinsend anzublicken und ihn spöttisch zu fragen: Wer glaubst du bin ich wohl?
Hinnerk drehte sich um und erbrach sich auf dem Gras. Zusammengekrümmt stand er da und würgte, bis sein Magen nichts mehr hergab. Galle kam ihm hoch.
Und er atmete zu schnell und zu flach. Er hoffte, dass sein Herz bald aufhörte zu rasen, vielleicht würden es dann auch seine Gedanken tun. Denn die waren im Augenblick das Hauptproblem. Sie bewegten sich viel zu schnell, sie rasten, hüpften und führten einen irren Tanz auf. Ihm war klar, dass er kurz davor stand, hysterisch zu werden oder die Grenze zur Hysterie vielleicht sogar schon überschritten hatte. Eine Panikattacke, aus der er nicht herauskam. Sein Atem, sein Herz, seine Gedanken, über alles hatte er auf unerklärliche Weise die völlige Kontrolle verloren.
Er konnte nicht glauben, was er mit eigenen Augen gesehen hatte. Und was geschehen war. Was geschehen sein musste! Und das durch seine Schuld.
Leichenblass taumelte er wieder zu dem Erdhaufen zurück und versuchte, das Gefühl grenzenlosen Ekels zu unterdrücken. Er riss sich mit letzter Kraft zusammen und schaufelte die skelettierte Hand und den grinsenden Schädel mit der Erde wieder zu. Zuletzt grub er die bereits ausgegrabenen Büsche mit ihren großen Wurzeln notdürftig wieder ein. Dann setzte er sich vor seinen Geräteschuppen, um sich langsam von seinem Schock zu erholen, was ihm jedoch nicht gelingen wollte. Hinnerk begann, am ganzen Körper unkontrolliert zu zittern. Plötzlich durchzuckten ihn höllische Krämpfe. Sein Magen schien zu einem Klumpen zusammenzuschrumpfen und verursachte ihm fürchterliche Qualen, denen er hilflos ausgeliefert war. Plötzlich umfing ihn schwarze Nacht, denn Hinnerk war in eine gnädige Ohnmacht gefallen. Als er wieder zu sich kam, stellte er anhand seiner Taschenuhr fest, dass er höchstens zwei Minuten an der Holzwand des Schuppens gelehnt haben konnte.
Aber jedenfalls waren seine Schmerzen fast verflogen. Er spürte nur noch ein leichtes Brennen in der Magengegend.
Doch sogleich fiel sein Blick auf die Rhododendronbüsche Auge und seine Gedanken schwirrten wieder in seinem Kopf durcheinander und wollten ihm nicht mehr gehorchen. Dennoch war er ein wenig ruhiger geworden und auch sein Herz raste nicht mehr, sondern schlug nun einen fast gleichmäßigen Takt.
Das Bild, das er noch vor ein paar Minuten vor Augen gehabt hatte, ließ sich nicht mehr zusammenfügen, so sehr er sich auch darum bemühte. War er wirklich ein Mörder? fragte er sich erschüttert. Die Frage wog zentnerschwer in seinem Kopf.
Was war geschehen in jener Nacht?
Er erinnerte sich dunkel, dass er morgens nach einem nächtlichen Trinkgelage mit Oskar Marakow auf seinem Acker erwacht war und sich kaum rühren konnte. Neben hatten sich in stiller Eintracht zwei leere Flaschen Korn und unzählige leere Bierflaschen gestapelt. Seine rechte Gesichtshälfte war stark angeschwollen und das rechte Auge ließ sich nicht öffnen. Die verletzte Gesichtshälfte tat höllisch weh und würde wohl auch angeschwollen und blau unterlaufen sein. Er war zu seinem Schuppen gekrochen, um dort zu warten. Auf was zu warten? Auf Swantje, die ihn vielleicht schon vermisste? Oder auf Oskar? Wo war der überhaupt? Er hatte sich nach allen Seiten umgesehen, ihn jedoch nirgendwo entdecken können. Der hatte sich ja fein aus dem Staub gemacht, hatte er gedacht, und ihn, Hinnerk, völlig lädiert auf dem feuchten Gras zurück gelassen. Aber das war ja typisch für ihn.
Ein wenig später hatte er sich aufgerafft und war zu seinem Haus getorkelt. Er hatte bis nachmittags tief und fest geschlafen. Danach war er mit einem ordentlichen Kater erwacht und konnte sich an keine Einzelheiten mehr erinnern. Und außerdem hatte er sich eine schwere Erkältung zugezogen, die ihn noch Tage danach an die unliebsame Nacht erinnern sollte.
Was war in dieser verhängnisvollen Nacht passiert? Hinnerk saß immer noch an der Wand seines Geräteschuppens gelehnt, als könne er sich nicht mehr rühren. Fragen über Fragen, auf die er keine Antwort fand, auch dann nicht, wenn er Stunden über Stunden sein Hirn zermarterte. Er schüttelte sich wieder vor Entsetzen und Ekel.
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