Der Soldat aber war nach England zurück beordert worden und erfuhr nicht einmal, dass er Vater werden würde. Und hätte er diese Tatsache gewusst, wäre er wohl auch nicht nach Deutschland zurückgekommen. Fräulein Degenhardt wiederum wusste nicht, dass der britische Soldat bereits verheiratet und zweifacher Vater war, weil er angeblich ledig gewesen sei und Fräulein Degenhardt ihm jedes Wort geglaubt hatte. Sie hörte nie wieder etwas von ihm. Das Ereignis machte seine Runde und man beobachtete schadenfroh die unglückliche werdende Mutter, die inzwischen bei einer Cousine, die sich ihrer erbarmte hatte, Unterschlupf gefunden hatte. Fräulein Degenhardt ging zwar einer Arbeit nach, sie verdingte sich als Hilfsarbeiterin und zahlte für Unterkunft und Verpflegung, doch die Cousine hatte selbst drei Kinder und einen Mann. Die beengten Verhältnisse in der Zweizimmerwohnung machten allen zu schaffen. Schon bald bat die Cousine, sich doch etwas anderes zu suchen, zumal diese in Kürze niederkommen und der Wohnraum dann noch beengter sein würde. In ihrer Not, wozu wohl auch das Gespött und die Schadenfreude der Leute beitrugen, wusste sich Fräulein Degenhardt nicht mehr zu helfen. Und ihre Hauptsorge galt dem ungeborenen Kind. Wer würde es betreuen, während sie arbeitete? Sie musste doch schließlich ihren Lebensunterhalt verdienen, nicht nur für sich, sondern auch für ihr Kind. Der Gedanke, sich an staatliche Stellen zu wenden, kam ihr nicht in den Sinn und wurde ihr auch nicht nahegelegt. Ihr wuchs die unleidige Angelegenheit über den Kopf, es war einfach zu viel für sie und sie sah aus diesem Grund nur noch einen Ausweg, ihrer ausweglosen Lage zu entfliehen. In höchster Verzweiflung und von allen allein gelassen, stürzte sie sich sechs Wochen vor der Geburt ihres Kindes vom Dach eines Hauses in den Tod.
Diese verhängnisvolle Tragöde sowie auch die nachfolgende, die kurz darauf passierte, ließ die Leute das Verschwinden von Oskar Marakow schnell vergessen.An einem schönen sonnigen Tag Ende April 1947 spielten zwei Jungen auf dem Kanalweg Fußball. Bald war der Ball jedoch im Kanal verschwunden. Ihre vergebliches Bemühen, den Ball mit Stöcken wieder herauszufischen, gelang nicht und sie gaben ihr Vorhaben auf. Sie suchten nach einer anderen Möglichkeit, sich die Langeweile zu vertreiben und spielten nun an der Grabenböschung, um im Graben nach Fröschen zu suchen. Die Frösche aber hatten sich gut versteckt und entkamen ihnen jedes Mal, wenn sie glaubten, sie gefangen zu haben. Der eine Junge, Dieter, stocherte daraufhin gelangweilt mit dem Stock in der Erde herum, weil er der Suche überdrüssig geworden war und stieß dabei auf ein Eisenteil, das mit der Spitze aus der Erde heraus lugte. Er zeigte es sofort seinem Freund Wolfgang, der das aus der Erde herausragende Teil fachmännisch von allen Seiten inspizierte. Sie hielten es für ein Eisenteil. Dann gruben sie es vorsichtig aus. Die beiden Jungen nahmen dieses an sich und kletterten schließlich die Böschung wieder hinauf, um das Ding erst einmal von der Erdkruste zu reinigen. Sie waren erfreut über ihren Fund, dachten sie doch, er stelle für sie einen gewissen Wert dar. Und die beiden Jungen beschlossen spontan, das Teil an einen Schrotthändler zu verkaufen, denn es hatte ein schönes Gewicht und würde sicher ein paar Groschen einbringen. Für zwei achtjährige Jungen im Jahre 1947 bedeuteten „ein paar Groschen“ viel Geld und sie malten sich aus, was sie dafür alles kaufen könnten. Dieter wollte sich eine Wundertüte holen und Wolfgang zog Sahnebonbons vor, denn die aß er für sein Leben gern. Vielleicht würde sogar noch etwas von dem Geld übrig bleiben. Und während die beiden Jungen mit ihren Gedanken beim Kauf der schönen Sachen waren und ihrer Fantasie freien Lauf ließen, hörten die Leute im Dorf und Umgebung einen lauten explosionsartigen Knall.
Einige fuhren sofort mit ihren Fahrrädern, sofern sie eines hatten, zu der Stelle, woher sie das Geräusch vernommen hatten. Andere waren zu Fuß dorthin geeilt. Schon von weitem erblickten sie einen Krater, der durch die Explosion auf dem Sandweg am Kanal entstanden war. Und die Menschen, die als erste an der Unglücksstelle eintrafen, waren so entsetzt von dem Anblick, der sich ihren Augen bot, dass sie erschüttert und so blass wie ein weißes Leinentuch zurück wichen. Ein Mann schwang sich sofort wieder auf sein Fahrrad, um den Dorfarzt und die Rettung sowie die Polizei zu benachrichtigen. Doch bis der Dorfarzt und ein Krankenwagen eintrafen, war Dieter bereits tot. Wolfgang aber hatte die tödliche Waffe beide Beine zerfetzt. Sie mussten ihm später im Krankenhaus amputiert werden.
Bei dem „Eisenteil“ handelte es sich um eine britische Handgranate aus dem zweiten Weltkrieg. Sie war explodiert, während die beiden Jungen diese von der Erdkruste reinigten.
Es ist möglich, dass die Jungen dabei den Sicherungsstift herausgezogen hatten.
Möglich erschien aber auch, dass dieser bereits herausgezogen war und die Handgranate infolge eines technischen Fehlers nicht hochgegangen und lange Zeit in der Grabenböschung unter der Erde geruht hatte. Der überlebende Junge, der später befragt wurde, konnte jedoch dazu nichts sagen. Er konnte sich nicht mehr erinnern.
Noch nach Tagen wurde jeder, der den Kanalweg in Richtung Dorf befuhr, an das Unglück erinnert, denn die Explosion hatte ein riesiges Loch in die Erde gerissen. Dann wurde es durch Straßenbauarbeiter mit Kies notdürftig zugeschüttet.
Diese beiden tragischen Vorfälle ereigneten sich kurz nach dem Verschwinden von Oskar Marakow und trugen dazu bei, dass dieser schon recht bald in Vergessenheit geraten war. Später sollte man sich kaum noch an ihn erinnern. Bis zu jenem verhängnisvollen Ereignis, das sich sehr viel später zutragen würde. Da war Oskar Marakow wieder in aller Munde.
Außer Swantje schien ihn wohl kein Mensch so recht zu vermissen. Sie war enttäuscht von Oskar, denn er hätte sich doch wenigstens von ihr verabschieden können. Das konnte sie doch wohl, nachdem sie sich gut verstanden hatten, von ihm erwarten. Swantje hatte ihm noch so viel sagen wollen. Ihr Mann nahm ihr verändertes Wesen mit Zweifel und Trauer wahr. Ihre Ehe bekam dünne Risse, die immer weiter auseinander zu klaffen drohten, was Hinnerks unbändige Wut, denn die war immer noch nicht verraucht, nur noch mehr steigerte. Mit der Zeit lernte er, seinen Zorn in den Griff zu bekommen und besser damit umzugehen. Aber seitdem war Hinnerk das Gefühl nicht losgeworden, nur die zweite Geige in Swantjes Leben zu spielen. Er steigerte sich regelrecht in diesen Gedanken hinein und konnte ihn nicht abschütteln, so sehr er sich das wünschte.
Dass er an diesem Umstand den größten Teil der Schuld trug, kam ihm nicht in den Sinn.
Hinnerks Überlegungen wurden durch das Brodeln des kochenden Wassers unterbrochen. Er brühte sich nun seinen Kaffee auf und dachte mit ein wenig Wehmut an den kräftigen Bohnenkaffee zurück. Aber vielleicht würde er diesen wegen seiner Magenbeschwerden, die ihn in der letzten Zeit quälten, gar nicht mehr vertragen, tröstete er sich in Gedanken, als er den fertigen Kaffee in eine Tasse goss und in kleinen Schlucken trank. Die Tür zur Schlafkammer quietschte in ihren Angeln und Swantje stand in ihrem langen weißen Nachhemd im Türrahmen.
„Soll ich dir etwas zu essen machen?“ fragte sie und gähnte hinter vorgehaltener Hand, denn ihre Morgenmüdigkeit war noch immer nicht verflogen. Die blonden Haare hingen ihr wirr ins Gesicht und sie blickte Hinnerk aus müden Augen an. Hinnerk fand sie trotzdem hinreißend und freute sich im Stillen, dass Oskar Marakow sie nun doch nicht bekommen hatte. Hoffentlich würde das auch so bleiben, dachte er Sekunden später erschrocken. Hoffentlich taucht er nicht plötzlich wieder auf mit seinem Großmannsgehabe.
„Nein lass nur, Kaffee reicht mir erst einmal. So lange dauert das Ausgraben der Büsche sicher nicht. Den Rest kann ich auch heute Nachmittag erledigen,“ antwortete Hinnerk gut gelaunt und dachte, man solle das Arbeiten auch nicht gerade übertreiben. Nachmittags war immer noch Zeit genug. Das bisschen würde er im Handumdrehen schaffen. Er fügte hinzu: „Es wäre gut, wenn du um zehn Uhr Frühstück machen könntest. Dann habe ich sicher das Gröbste geschafft.“ Und wenn nicht: Morgen ist auch noch ein Tag, dachte er und war immer noch guter Dinge. Er fühlte sich heute wie neugeboren. So frisch und ausgeruht wie seit langem nicht mehr.
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