Aber das Volk achtete nur auf seinen Prediger, die meisten mit erschrockenen Mienen, als schlüge er sie ins Gesicht. Ehe Unruhe aufkommen konnte, predigte er fort und verkündete Christus’ Aufruf nach seiner Auferstehung. „Gehet in alle Welt und predigt das Evangelium aller Kreatur.“ Das wolle auch er tun, jetzt und bis zu seinem Tode, wenn die Zunge ihm einst ihren Dienst versage.
Barbara spürte den Entschluss in sich aufbäumen, der seit Tagen in ihr gereift war. Nach dem Gottesdienst blieb sie unauffällig zurück und hoffte, dass Vater und Bruder draußen nicht auf sie warten mochten. In der leeren Kirche befiel sie ein Gefühl, als schauten tausend Augen auf sie herab, die ihr wiederum verborgen blieben.
Lammer hatte die Kanzel verlassen und wirkte plötzlich wie geschrumpft, verloren im Raum. Für die Dauer eines Augenblicks fühlte sich Barbara ihm seltsam verbunden, doch als er sie bemerkte und auf sie zukam, schwand dieses Empfinden mit jedem Schritt. Lammer schien wieder zu wachsen auf seinem Weg durch den Mittelgang des Langhauses.
Sie überlegte, wie sie beginnen sollte und versuchte den Wortwirbel in ihrem Kopf zu ordnen. Da hörte sie, wie hinter ihr das Portal wieder geöffnet wurde und fand sich im Lichtkegel stehend.
Auf Lammers Gesicht spiegelte sich Bedenken. Gebieterisch ragte er vor dem jungen Mädchen auf, sah an ihr vorbei und winkte mit dem Zeigefinger den Eingetretenen heran. Weit hing dabei der Ärmel seines Talars herab und wehte, leicht bewegt vom Luftzug, beim Zufallen der Tür. Barbara musste an einen Krähenflügel denken, was sie sofort verdrängte. Dieser Vergleich erschien ihr höchst unangemessen. Aus Ehrfurcht vor dem Pfarrer hatte sie sich noch nicht dem stumm Näherkommenden zugewandt. Als er an ihre Seite trat, erkannte sie ihn ungesehen, so vertraut war er ihr geworden.
„Bärbel, Bärbel!“ Martin hatte gerufen, und sie kam, so wie früher. Sie kühlte ihm die immer noch glühende Stirn, setzte sich zu ihm ans Bett und lächelte, als wäre alles gut.
Er wollte wissen, wie es beim Ostergottesdienst gewesen sei. Barbara staunte und berührte seine Wangen. Das Fieber sank. „Du kennst doch die Ostergeschichte, Martin.“ Trotzdem erzählte sie ihm davon, beschritt in Worten mit ihm den Leidensweg Christi.
Er hob den Kopf vom Kissen. „Werde ich auch wieder auferstehen?“
Barbara prüfte nochmals seine Temperatur. Das Fieber war eindeutig gesunken. „Freilich wirst du irgendwann auferstehen, aber vorher musst du ein gläubiges Leben führen.“
Martin versuchte sich aufzurichten, schlang seine Arme um ihren Hals und zog sie zu sich herab. „Ach Bärbel, ich hab mich ja so elend gefühlt – ich glaub’, geradeso wie der Heiland am Kreuz.“
Vorsichtig löste sich Barbara aus seiner Umklammerung. „Das darfst du damit nicht vergleichen.“
Martin begehrte auf. „Der Herr Pfarrer sagt doch immer, dass wir Gottes Ebenbilder sind und sein Sohn ein Mensch geworden ist.“ Dann erzählte er, an Karfreitag habe er geträumt, neben Christus am Kreuz zu hängen.
Barbara legte ihm die Hand auf den Mund und drückte ihn sacht in die Kissen zurück. Sie fürchtete, Gott könnte sich erzürnen über derartige Anmaßungen, selbst wenn sie aus einem Kindermund kamen. Aber das Fieber fiel weiter. Gesünder als er eingeschlafen war, erwachte Martin und verlangte nach süßer Milch. Barbara hielt ihm ein Schälchen an die Lippen, wischte den weißen Bart um seinen Mund herum ab, nachdem er getrunken hatte, und lächelte. „Gedulde dich noch ein Weilchen, dann wächst dir ein richtiger Bart.“ Beinahe bereute sie ihren Scherz, so begeistert war der Junge davon.
„Wirklich? Wenn mir ein Bart wächst, dann bin ich doch fast schon ein Mann und kann dich heiraten.“
Barbara streichelte ihm die flaumige Wange. „Ein Bart allein macht noch keinen Mann. Du musst warten wie alle anderen Buben und irgendwann...“
Er unterbrach sie, schlug nach ihrer Hand. „Geh’ weg, ich weiß schon, dass du mich nicht mehr magst.“
Barbara seufzte. „Ach Martin, warum sollte ich dich nicht mehr mögen?“ Sie versuchte ihm zu erklären, dass die Zeit der gemeinsamen Kindheit verronnen war, doch er hatte den Kopf weggedreht und hörte nicht hin. Als nach einer Weile ihre Stimme ganz verklang, schreckte er hoch.
Barbara saß mit einer Näharbeit auf einem Stuhl neben dem Bett und erschrak ebenfalls, denn sie glaubte, er wäre eingeschlafen und hätte schlecht geträumt. Er starrte auf den Stoff in ihren Händen. „Was nähst du da?“
Sie antwortete nicht sofort, lächelte verlegen. „Ein Hemdchen.“
„Für mich?“
Sie wiegte den Kopf und hielt es ihm hin. „Sieh’ doch, für dich wird es viel zu klein. Du willst doch auch immer ein großer Bub sein, oder?“
Martin beäugte misstrauisch das hingehaltene Hemd.
„Es wird für ein Kindchen“, beantwortete Barbara seine unausgesprochene Frage und fügte noch hinzu, dass sie schließlich nicht den ganzen Abend untätig hier sitzen könne. Er wisse doch, dass Gott keinen Müßiggang möge und wohin er führen könne.
Doch Martin schüttelte hartnäckig den Kopf. Nein, das wisse er nicht.
Dann solle er sich das jetzt für alle Zeiten merken, denn darauf warte der Teufel nur. Der begegne den Menschen meistens beim Müßiggehen, wenn ihre Gedanken nicht an nützliche Arbeiten gebunden seien.
Martin betrachtete den Nähfaden in Barbaras Händen und überlegte, warum sie ihm gerade jetzt so etwas erzählte. War sie nicht auch müßiggegangen, als dieser Franz ihr über den Weg lief? Wenn das so sei, platzte er heraus, dann solle sie nur immer hier bei ihm sitzen bleiben und Hemdchen nähen. Dabei käme sie nie auf den Müßiggang zurück.
Barbara sah sich unvermittelt auf einem Berg aus Hemden und anderen Kleidungsstücken sitzen und lachte laut heraus. Als Martin sein Gesicht verzog und sie sah, wie ernst ihm das gewesen war, brach ihr Gelächter ab. „Du bist ein sonderbarer Bub, Martin, hältst dich zu viel alleine auf. Du musst dich mehr den anderen Buben anschließen, dich nicht dauernd an mich klammern.“ Sie wollte weiterreden, ihm mitteilen, dass er das bald ohnehin nicht mehr könnte, weil sie sich vermählen wollte, dass der Herr Pfarrer ihr und dem Franz Hilber heute nach dem Gottesdienst seinen Segen gegeben hätte und nur noch die Erlaubnis des Vaters ausstünde. Aber als sie dazu ansetzte, begann der Junge zu stöhnen, betrachtete sie aus glasigen Augen und warf seinen Kopf von einer Seite auf die andere, wobei er unablässig „nein, Bärbel“ murmelte.
Besorgt legte sie ihm die Hand auf die Stirn, bis er sich beruhigte. „Ich bin doch hier, Martin.“ Sie dachte an die Mahnung des Baders. „Ich bleibe hier bei dir sitzen.“
An der Ostermette nach Mitternacht würde sie also nicht teilnehmen können. Aber sie gestand sich ein, dass es ihr so lieber war. Lammer hatte sie eingehend von Kopf bis Fuß beäugt und wollte erst seinen Segen zu dieser Verbindung geben, als Barbara beteuerte, dass sie Franz Hilber bereits die Ehe versprochen hätte. Dem konnte Lammer nichts mehr entgegensetzen, außer, dass sie nicht so voreilig hätte handeln dürfen. Aber das sei nun mal geschehen, und er werde mit ihrem Vater alles bereden. Die Hochzeit sollte natürlich erst im Mai stattfinden, nach der Fastenzeit.
Dem hätte Barbara gern widersprochen, wagte es aber nicht, weil es ihre Vermutung aus eigenem Munde hätte offenbaren können. Glich ein solches Verschweigen nicht einer Lüge? Vielleicht täuschte sie sich aber doch und somit nicht den Herrn Pfarrer. Barbara fand keine Ruhe, nahm ihre Näharbeit wieder zur Hand und betrachtete den eingeschlafenen Jungen, dessen Verstörung noch auf seinem Gesicht lag. Ein ungutes Gefühl beschlich die junge Frau. Sie versuchte an etwas anderes zu denken, summte ein Schlaflied für Martin und übertönte allmählich die warnende Stimme in sich.
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