An der Abzweigung zum Schulberg blieb Jörg stehen, atmete durch und beschloss, Gottes Diener nicht so früh zu stören. Er suchte Zuflucht in der stillen Kirche, auf der hintersten Bank, wie es ihm beim Gottesdienst anstand. Grau zeichnete sich der gemäß lutherischem Glauben von Götzenfiguren gereinigte, weißgekalkte Chor um die Kanzel herum ab, welche den Altar beiseite gedrängt hatte und nunmehr im Mittelpunkt stand. Jörg sah zu ihr hin und rang mit dem Schlaf, wie sonst während des Gottesdienstes.
Er fand gerade noch Kraft, sich darüber zu wundern, warum sie vor seinen Augen mit dem Hintergrund verschmolz, ehe er sich dem Schlaf preisgeben musste. Sein Kopf sank auf die Brust, und die ineinandergefalteten Finger lösten sich.
Lange schlief Jörg so tief, dass er nicht träumen konnte. Erst am späten Vormittag begannen seine Lider zu flackern. Er sah sich in der Kirche auf der Bank sitzen, aber nicht mehr allein. Betende waren um ihn, in langen, weißen Gewändern, und die Sonne erleuchtete ihre gelockten Häupter. Sie rührten nicht einmal ihre in die Andacht versunkenen Gesichter, die ihn wachsweiß und durchsichtig anmuteten, wie ihre Hände. Jörg versuchte sie förmlich mit den Augen zu begreifen, doch je eindringlicher er sie betrachtete, je gläserner wurden sie und schwanden endlich, ohne sich erhoben zu haben.
Eine der Gestalten musste aber an ihm vorbei gegangen sein, ihn nur mit dem Windhauch einer Bewegung berührt haben. Jörg hob seine Lider – einen Augenblick zu spät, wie er meinte, um die Gestalt noch sehen zu können.
Das Portal war geöffnet worden, und durch den Mittelgang, über die Kanzel hinweg, flutete ein Lichtstrahl. Jörg sah ihm nach und faltete verzückt seine Hände. Auf dem Seitenaltar neben der Kanzel steckten jetzt hohe, weiße Kerzen in einem sechsarmigen Lüster. Sie waren doch nicht hinausgegangen, seine Engel.
Die Sonne näherte sich dem Zenit, prallte auf das Haupt des Jungen und auf die Rebstöcke. Er befühlte eine der Knospen, nahm sie zwischen Daumen und Zeigefinger und rieb sie, zerrieb sie, bis ihr noch ruhendes Innenleben zwischen seinen Fingern verblutete. Heinrich wischte sich die Hand an der Hose ab und sprang weiter zwischen den Reben hindurch, bergauf zur Vogelscheuche, die über alles wachen sollte. Unterwegs knickte er ein Zweiglein ab und hüpfte lachend und damit wedelnd um die Scheuche herum, dass ihr fast der Schlapphut vom Strohkopf fiel. Alsdann zog der Junge seine Schleuder aus der Hosentasche, legte ein Steinchen ein und zielte auf einen Star. Wütend umklammerten seine Finger das Holzstück – daneben. Beinahe hätte er vorhin in der Kirche auch die Kerzen so gedrückt, konnte sich aber gerade noch beherrschen. Heinrich quetschte seine Schleuder zurück in die Tasche, hob den Kopf und sah über die Mauer den Abhang hinunter auf die Stadt. Ein schwarzer Punkt überquerte eben den Fischersteg. Heinrich schoss davon, betrat die Stadt durch das nördliche Tor und sauste die Turmgasse hinab, vorbei an der Lateinschule, bis er auf die parallel zur Glutach verlaufende Kronengasse stieß. Von da an schlenderte er betont gemächlich zum Pfarrhaus, als hätte ihn nichts zur Eile angetrieben, und erreichte es kurz vor seinem Vater. Heinrich grüßte und folgte ihm in die Stube. „Ich habe den Leuchter in der Kirche mit Kerzen bestückt, wie Ihr mir aufgetragen habt, Herr Vater.“ Heinrich fürchtete, dass der Ärger, der aus seines Vaters gerunzelter Stirn sprach, ihm gelten könnte. Eigentlich wollte er berichten, das er den alten Jörg in der Kirche gesehen hatte, doch dann wäre vielleicht herausgekommen, dass Schulmeister Kurzhals ihm die letzte Unterrichtsstunde erlassen hatte, weil er anstelle des erkrankten Kirchendieners die Kirche herrichten sollte, angeblich vor Schulschluss.
„Was hast du?“ Lammer hatte nicht richtig hingehört. Heinrich wiederholte, was er gesagt hatte, doch Lammer unterbrach ihn und winkte geistesabwesend ab. „Ja, schon gut.“
Heinrich atmete auf. Der Ärger galt offenbar nicht ihm. Sicherheitshalber wollte er seinem Vater doch noch einen Bissen reichen. „Herr Vater, die Anna – ich hab gehört, dass sie wieder gestottert hat.“
„So, hat sie das?“ Lammer wirkte verstört. Hinter ihm lag eine Auseinandersetzung mit Gernot Weiß, der vehement behauptete, jene armselige Pfründnerin nicht mehr bevorzugt behandelt zu haben. Lammer argwöhnte dennoch, er würde sie nach wie vor stundenweise in ein Einzelzimmer legen lassen. Doch solange er Weiß nicht dabei ertappte, konnte er schwerlich etwas dagegen tun, ja, den Ungehorsamen nicht mal gehörig maßregeln.
Missmutig befahl Lammer seinem Sohn, der Köchin auszurichten, dass er noch keinen Appetit auf weltliche Speise verspüre, ließ ihn stehen und schritt hinab zur Kirche. Als er eintrat, stieß er gegen Jörg, der jegliche Gedanken an leibhaftige Menschen beiseite geschoben hatte und, beflügelt vom Rausch himmlischen Trostes, das Gotteshaus verlassen wollte.
Als wäre er ein Eindringling in seine überirdischen Gefilde, starrte der Alte den Pfarrer an und fand kein Wort, nachdem er ihn gegrüßt hatte wie einen ungebetenen Gast.
Lammer musterte ihn verwundert. „Du bist doch der Jörg, Schaffners Gehilfe.“
„Steht das Gotteshaus nicht auch unsereinem immer offen, Herr Pfarrer?“ Jörg staunte selbst über seinen aufmüpfigen Ton.
„Gewiss doch. Gott will aber, dass wir arbeiten und nur zu gegebener Zeit feiern. Ich muss vermuten, dass du dich betrunken und im Tag geirrt hast. Morgen ist Karfreitag.“
Der Alte weitete die Augen und überlegte, wie er diesen Verdacht von sich weisen könnte. Gerade wegen des Osterfestes hatte er umkehren und sich zuerst mit Schaffner beratschlagen wollen, damit dieser auf die bevorstehende Schande gefasst sein würde. Nun fiel ihm nichts ein als ein hilfloses Kopfschütteln.
Lammer legte ihm väterlich eine Hand auf die Schulter. „Ich sehe dir an, Jörg, dass dich etwas bedrückt. Freilich bist du nun erleichtert nach der Zwiesprache mit Gott. Bedenke aber, dass ich von ihm zum Tragen irdischer Lasten beauftragt bin. Durch mich erfahren die Menschen sein Wort. Nicht alle können es allein durch das Gebet aufnehmen – so wie offensichtlich du, Jörg.“
Der Alte fühlte sich in seine Verklärung zurückversetzt. Ja, er glaubte wahrhaftig, Gottes Boten gesehen und ihre Kraft in sich aufgenommen zu haben.
Einladend fasste Lammer ihn am Rücken. „Folge mir in mein Haus und lasse dir ein Linsengericht schmecken, denn auch der Leib will gespeist sein.“
Jörg fühlte augenblicklich so viel Speichel auf seiner Zunge, dass seine Stimme wässrig klang. „Sehr wohl, Herr Pfarrer, zu gütig von Euch. Noch keinen Bissen hat mein Magen heute erhalten.“
Vielleicht war tatsächlich Beunruhigendes vorgefallen. Während er ihn zum Pfarrhaus geleitete, überlegte Lammer, mit welcher Nachricht der Alte ihn wohl speisen würde.
Unterdessen war auch Schaffner in sein Haus zurückgekehrt, obwohl er noch ein Grab auszuheben hatte. Böse Ahnungen begleiteten ihn, dazu sein Töchterlein, das um ihn herum sprang und den Blicken der Leute lachend begegnete. Der Vater hatte nicht gescholten, und sie machte sich keine Gedanken mehr darüber, warum Jörg sie für ein armes Kind hielt.
Drinnen im Haus wirkte beim Eintreten alles wie sonst. In der Ecke auf ihrem Stuhl saß die Großmutter in der Stube und murmelte leise vor sich hin. Von der Küche drangen die Arbeitsgeräusche der Magd herüber.
Marie stürmte zu ihr an den Herd. „Erna, warum singst du nicht?“
„Die Alte hat’s verboten“, hörte Schaffner die Magd von der Stube aus antworten und sah zu seiner Schwiegermutter hinüber. Stumm suchte er in ihrem Gesicht nach Antworten auf Fragen, die Marie in ihm aufgeworfen hatte, als das Kind aus der Küche kam, neben dem Stuhl auf den Boden schlitterte und zu der Greisin aufsah. „Großmutter, warum darf die Erna nicht mehr singen?“
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