Schaffner unterbrach sie barsch. „Weil’s nichts zu singen gibt in diesem Haus.“ Er trat herbei und zog das Kind weg. Die Alte nickte und deutete zur Küche. „Nicht so ein gottloses Zeug, was die immer singen will.“ Damit sang sie selbst und lobpreiste Gott in hohen Tönen.
Schaffner starrte sie ungläubig an und unterbrach das Lied nach der ersten Strophe. „Das aus Eurem Munde! Es klingt wie Hohn. Ich weiß Bescheid über Eure Machenschaften.“
Die Greisin murmelte wieder vor sich hin. Schaffner hielt abwehrend beide Hände vor sich, als wollte sie ihm im nächsten Moment ins Gesicht springen. „Was murmelt Ihr da? Seid still!“ Nun verstummte sie ganz und stierte mit unbewegter Miene wie durch ihn hindurch.
Unruhig ging Schaffner vor ihr auf und ab. „Wohin geht Ihr? Immer seht Ihr so drein. Jetzt fällt es mir auf.“
Sie antwortete nicht gleich. „Ich sehe kaum noch etwas, nur das, was ich nicht vergessen kann. Das muss ich immer sehen.“
Marie stand neben ihrem Vater. Er wurde ihr mit jedem Wort fremder, denn sie war es nicht gewohnt, dass er so viel redete. Auch Schaffner selbst kannte sich kaum wieder, was die Erregung in seiner Stimme nur noch steigerte. „Dass Ihr so eine seid... Aber wie konntet Ihr das arme Kind zu derlei Dingen anleiten, es auf dem Besen mit hinausfahren lassen...?“ Schaffner brach ab, als er den entsetzten Blick der Alten gewahrte und schaute zu Marie. Die Kleine hatte nur wieder herausgehört, dass sie ein armes Kind sei, und die Stirn gekraust.
Tränen rannen der Großmutter aus den Augen, die so trocken waren, dass das Weinen brannte. Ohne sich noch mal unterbrechen zu lassen, faltete sie die Hände und begann zu beten. Auch aus Maries Augen flossen Tränenströme. „Weint nicht, Großmutter, ich bin doch gar kein armes Kind.“ Immer noch klang es eher trotzig als traurig.
Der Vater zog sie abermals fort. Sie folgte ihm bis in die Mitte der Stube und blieb dort stehen. An der entgegengesetzten Wand ließ er sich auf die rund um die Stube führende Bank sinken. Nach einer Weile gesellte sich Marie an seine Seite. „Müsst Ihr heute kein Grab mehr schaufeln, Vater?“
„Sei still, alles soll still sein“, gebot Schaffner, worauf auch die Küchengeräusche erstarben. Nur die Großmutter betete unentwegt weiter. Doch die Gedanken in Schaffners Kopf brodelten so hitzig, dass er nichts anderes mehr wahrnahm. Was hatte er hier untätig zu sitzen am helllichten Tag? Das Grab – er musste doch noch ein Grab schaufeln. So forderte es eine Stimme in ihm, erst die eigene und dann eine andere, lautere. Er kannte sie. Es war die Stimme des Pfarrers. Sie fragte ihn, was er hier mache.
‚Ich werde es schaufeln, das Grab – mein Grab’, antwortete Schaffner in Gedanken, aber die Stimme gab sich nicht damit zufrieden. Der Totengräber rieb sich die Augen und fuhr hoch. Da stand er leibhaftig vor ihm, der Herr Pfarrer. Marie hatte ihn hereingelassen. „Ich gehe schon, das Grab schaufeln“, hörte Schaffner sich sagen, doch der Geistliche sah ihn verständnislos an. Jetzt bemerkte Schaffner, dass er in Begleitung zweier Schergen gekommen war, die nicht länger müßig herumstehen wollten, sich überall nach verdächtigen Indizien umsahen und die Großmutter von ihrem Stuhl hochzerrten.
Mit kritischen Blicken folgte Lammer jeder Bewegung. „Nicht so grob, es ist bisher nichts bewiesen.“ Mitleidig lächelnd beugte er sich zu Marie hinab. „Armes Ding – du kommst mit und erzählst uns alles.“
Marie nickte. Natürlich wollte sie erzählen, am liebsten gleich und vor allem, dass sie nicht arm sei, aber der Pfarrer hatte sich zur Tür gewandt. Widerspruchslos ließ sich die Großmutter von den Schergen hinausführen. Mit dem Kind an der Hand folgte Lammer. Auf der Schwelle drehte sich Marie noch einmal zu ihrem Vater um, der wieder auf der Bank saß. Licht fiel durch die Tür auf sein Gesicht.
Lammer sah, dass er nicht zu ihm durchdrang und musste dennoch ein paar Worte an ihn loswerden. „Ihr seht aus, als hättet Ihr von alldem nichts gewusst. Euer Unglück dauert mich. Lasst Euch durch die Arbeit ablenken. Richtet die Gräber.“
Der Schlag, mit dem die Tür ins Schloss fiel, zerschlug auch Schaffners Traumblase, in die er sich zum Schutz vor der Wirklichkeit gehüllt hatte. Er fand sich allein in der Stube und sah jetzt mit ungnädig wachen Augen die umgeworfenen Stühle, die durchwühlte Truhe, aus der die Kleider hingen, und den zerrupften Besen.
„Herr Pfarrer, sie kann noch allein gehen, die Großmutter.“ Marie sah auf ins Gesicht des Geistlichen, der sie an der Hand führte und ihre Finger drückte.
Er lächelte zu ihr herab. „Wie du sagst, kann sie ja noch viel mehr, als einfach nur gehen.“
Marie wich seinem Lächeln aus und betrachtete den Rücken der Greisin, die gebeugt an der Mauer entlang flussabwärts trottete, die dürren Beine nach außen gekrümmt und an den Armen beidseits von den Schergen gehalten, als könnte sie sonst davonfliegen. Hoch wölbte sich ihr Buckel über den Kopf, der von hinten kaum sichtbar war.
Marie konnte die Augen nicht von ihr lassen. So anders mutete sie die Großmutter im hellen Tageslicht an, wahrhaftig wie verzaubert.
Noch ehe er ein Wort mit der Verdächtigen gesprochen hatte, sah Lammer die Anschuldigungen glaubhaft dargeboten. Er brauchte ja nur dieses Kind unauffällig von der Seite her zu beobachten. Wie gebannt es auf die Alte starrte.
Maries Augen glotzten freilich nicht allein. Die meisten Anwohner hatten eben ihr Mittagsmahl verzehrt, und das fast täglich genossene Kraut rumorte in ihren Mägen, während sie mit aufgerissenen Mündern und ebensolchen Augen verharrten, wo immer sie gerade standen oder saßen. Das Schweigen schien die Botschaft auch jenen zuzutragen, die noch nichts mitbekommen hatten. Der Herr Pfarrer ließ die greise Schwiegermutter des Totengräbers abführen.
Kurz vor der Täuferbrücke ließen Maries Blicke geschwind von der Großmutter ab und schweiften durch die Büßergasse zur Schmiede. Das Hämmern war verstummt.
„Anna!“ Marie hatte eben noch einen Schürzenzipfel erhascht. Die Alte, schon auf der Brücke, zuckte mit dem Kopf, als der Ruf auch sie ereilte, und lenkte Lammers Gedanken zu sich.
Marie wandte sich nur noch einmal im Gehen um. Zu aufgeregt folgte sie auf die andere Seite, dem Marktplatz zu mit den feinen Häusern, dem Brünnlein in der Mitte, wo sie nur einmal in ihrem Leben gewesen war. Angst – nein, sie wollte nicht ängstlich sein. Der Vater würde sich freuen über sein Mägdlein, das kein Bub an Mut übertreffen könnte.
Mitten über den Platz schritten sie, zum feinsten aller Häuser, das in der Sonne prunkte, als würde es sie erwarten. Marie begann zu hüpfen an der Hand des Pfarrers, ließ es aber sofort wieder sein. Lammer wies sie auf die Menschen ringsumher hin, deren Lippen zitterten. Marie tat es ihnen gleich und murmelte ein Gebet. Was die Leute bloß für ängstliche Gesichter zogen, all die Erwachsenen und sogar die Männer. ‚Wenn das nur der Vater sehen könnte’, dachte Marie und fühlte einen Stolz in sich aufglühen, der Stirn und Wangen rötete. Ihr Herz hämmerte in der Brust, als sie an Pfarrer Lammers Hand dieses Haus betrat, das auf sie gewartet hatte. Breit führte eine Treppe aufwärts, nach einem riesigen Saal mit hohem Gewölbe, fast so hoch wie in der Kirche. Marie reckte den Kopf, schon als sie das Portal durchschritt. Ihr Herz hüpfte so wild, als wolle es dieses Gefängnis aus Rippen sprengen, das es an die Erde bannte. Mit der freien Hand erfühlte sie die Schnitzereien des Treppengeländers und schaute darüber hinweg an die Wand, von welcher ehrwürdige Herren streng auf sie herabsahen – ehemalige Bürgermeister von Bärenbrück. Dabei bemerkte sie nicht, wie die Großmutter im ersten Stock hinter einer Tür auf dem Gang verschwand.
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