Missmutig vernahm sie, dass er dem Vorschlag zustimmte, weil sie ein armes Opfer sei, noch dazu als Mägdlein besonders leicht verführbar. Man könne sie aber bestimmt wieder auf den richtigen Weg zurückführen. Sie sei ja noch so klein.
Marie wusste, dass Kinder Erwachsenen niemals ins Wort fallen durften, aber sie kam nicht umhin, die Stirn zu krausen. Offenbar hielt sie nicht nur der Vater für arm und ängstlich, nur weil sie ein Mägdlein war. Zornig stampfte Marie auf, so dass die hohen Herren aufsahen, und funkelte sie an. Wenn sie schon kein Bub sein konnte, dann nicht einfach nur ein Mägdlein – dann wenigstens eine Hexe.
Im Nebenraum wartete die Großmutter auf ihre Vernehmung. Still horchte sie in sich hinein und glaubte, Stimmen zu hören, auch die ihrer Enkelin – auffallend lange nur ihre. Sie fragte sich, ob Gott ihr durch die altersschwachen Ohren zusätzliche Pein ersparen wollte und ob der junge Scherge an der Tür etwas verstünde. Sorgsam vermied er jeden Blick zu ihr, obwohl er sie nicht aus den Augen lassen sollte. Die Alte fragte ihn nichts. Sie spürte, dass sie keine Antwort bekäme.
Je länger sie so saß und wartete, umso mehr festigte sich ihr Glaube, dass der Teufel Marie nur als Werkzeug benutzte, um sie, die Großmutter, endlich doch noch einzufangen nach all den Jahren. Offenbar hatten die Schilderungen der Vergangenheit am Kaminfeuer sowie das eindringliche Beten nicht ausgereicht. Furchtsam kreisten ihre Gedanken um die Frage, ob etwa ihr eigener Glaube zu schwach gewesen sei – wie damals, als das Verhängnis seinen Lauf genommen hatte. Um wie viel stärker hätte er jetzt sein müssen, nachdem die körperlichen Kräfte täglich mehr nachließen? Wichtige Einzelheiten konnten ihren Augen entgangen sein. Womöglich hatte das Kind nicht ordentlich die Hände gefaltet beim Beten, sondern stattdessen mit seinem Schürzenzipfel gespielt.
Die Greisin betrachtete den Wächter an der Tür, faltete ihre Hände und murmelte lauter als üblich das Vaterunser, nachdem der Bursche immer noch nicht gewillt war, sie zu beachten. Er sollte nicht nur hören, dass sie betete. Er sollte es sehen und allen anderen kundtun, welch gottesfürchtige Frau sie war.
Sie wusste nicht, wie viele Vaterunser sie gesprochen hatte, als man sie endlich abholte und nach nebenan führte. Dort saß der hohe Rat mit dem inzwischen zurückgekehrten Herrn Pfarrer beisammen, etwas abseits ein junger Herr, den das Handgelenk schmerzte – der Gerichtsschreiber.
Die Beschuldigte wurde zur Anklagebank geführt, hielt weiterhin ihre Hände gefaltet und versuchte, sich im Raum zu orientieren. „Bitte, wohlweise Herren, was ist mit meiner Enkelin?“
Die Beratschlagenden hoben die Köpfe und sahen die Frau an, als habe sie einen Zauberspruch auf sie losgelassen, was ihr Gelegenheit zum Weiterreden einräumte. „Sie weiß nicht, was sie sagt, ist doch nur ein unvernünftiges Kind. Der böse Feind muss sich ihrer bemächtigt haben, obwohl ich wohlweislich vorgesorgt hab in all den Jahren.“ Sie warf einen Blick zur getäfelten Decke. „Gott ist mein Zeuge.“ Bei den letzten Worten war sie aufgestanden, fühlte sich von Schwindel befallen und setzte sich, ehe sie das Gleichgewicht verlor.
Den Männern war nichts entgangen. Lammer sprach ein Gebet, und die anderen stellten ihr Getuschel ein. Der Vogt deutete auf die Frau. „Meine Herren, seht, dass die Angeklagte nicht aufrecht stehen kann, wenn sie Gottes Namen missbraucht. Er warf sie soeben auf ihren Platz zurück, als Zeichen ihrer Schuld. Ein Werkzeug war das Kind in ihren Händen.“
Die Alte, erschöpft vom ungewohnt lauten Reden, murmelte kopfschüttelnd vor sich hin. Der Schultheiß neben dem Vogt ließ durch seine blecherne Stimme verlauten, was sich die anderen fragten. „Was murmelt sie, was wir nicht hören sollen?“ Lammer fühlte sich angesprochen, trat zur Anklagebank und zerrte die Greisin hoch. „So treibst du es wohl seit jeher – mit Sprüchen, die an kein rechtschaffenes Ohr geraten dürfen. Sag’, hat nicht die Zauberei eine traurige Tradition in deiner Sippe? Ward nicht einst die Schwester deiner Mutter, welche dich aufgezogen, ebenfalls der Hexerei überführt worden?“
Die Angesprochene verstummte und starrte vor sich hin, als sähe sie das Gesicht des Pfarrers nicht, als sähe sie überhaupt nichts Weltliches mehr.
Unbeirrt fuhr er fort. „Hast du sie nicht selbst damals angezeigt und warst auch noch ein ‚unvernünftiges Kind’, wie deine Enkelin jetzt?“ Während er sprach, umkreiste Lammer die Angeklagte, blieb endlich hinter ihr stehen und sah ihr über die herabhängende Schulter von der Seite her ins Gesicht. Sein Ton hatte sich dermaßen erhoben, dass sein Speichel Wange und Stirn der Bedrängten traf. Schwankend wahrte sie ihr Gleichgewicht, verkrampfte die Finger ineinander und erschrak insgeheim – nicht, weil sie wieder dieses Jucken und Brennen im Gesicht ertragen musste. Schuld daran war der Zorn, der in ihr aufwallte, ihr stummes Gebet durchdrang und es wahrhaftig zu einem Fluch werden ließ. „Neun Jahre zählte ich damals.“ Ihre Stimme klang heiser. „Nicht erst fünf wie das Mariele. Ich hab sicher gewusst, dass meine Tante mich verführt hat, dass ich schuldig durch sie geworden bin. Mein Lebtag hab ich dafür bezahlt und gebüßt, hab mein einziges überlebendes Mägdlein verloren, als es im Kindbett lag. Nur das Mariele hat Gott mir gelassen. An ihm hab ich alles wiedergutmachen wollen.“
Lammer trat einen Schritt beiseite und ließ zu, dass die Alte sich wieder setzte. Ihre Beteuerungen drohten ihn selbst innerlich zu erschüttern, und Vogt, Schultheiß sowie Apotheker standen ihm nicht bei mit ihrem ratlosen Schweigen. Sogar die Feder des Schreibers verstummte.
Unruhig trat der Geistliche von einem Bein auf das andere. „Nur Gott kann uns zeigen, ob du uns nicht auf Irrwege führen willst.“
Schlagartig fand auch der Vogt seine Stimme wieder. „Weil das gütliche Verhör nichts zutage bringt, was für die Unschuld der hier anwesenden Beklagten spricht, muss sie also peinlich verhört werden.“ Er schaute zu Lammer und seufzte ausgiebig. „Allerdings halte ich es in Anbetracht ihres fortgeschrittenen Alters für möglich, dass bereits eine Nacht im Hexenturm genug Tortur für sie bedeutet, um jegliches Leugnen abzulegen. Überdies soll man sich während der bevorstehenden Osterfeierlichkeiten nicht zu viel mit ihr beschäftigen und sie dadurch etwa hervorheben.“ Er nahm die Greisin ins Visier. „Es sei ihr geraten, sich alles noch mal gut zu überlegen und sich nicht selbst das Strafmaß durch hartnäckiges Leugnen und Nasführen des Gerichts unnötig zu verschärfen.“
Durch den rückwärtigen Ausgang des Rathauses, um zu viel Aufsehen zu vermeiden, wurde Maries Großmutter von ihrem Türwächter und einem älteren Schergen die Turmgasse hinauf zum Hexenturm geschleppt. Sie führten sie über eine enge Treppe in eine Zelle und drückten sie nieder auf dünn dahingeschüttetes Stroh, um ihr die Ketten anzulegen.
Karl, der Jüngere, hatte erst kürzlich seinen Dienst angetreten und sah dem erfahrenen Hans-Peter zu. Der stieß die Frau, weil sie nicht schnell genug in die Knie ging, und las Mitgefühl in den Augen des Jüngeren. „Spar’ dir dein Mitleid für die Opfer auf. Oder willst du etwa zu ihr halten?“
Karl schüttelte erschrocken den Kopf.
Fachmännisch schloss Hans-Peter ihr die Ketten um Hand- und Fußgelenke. „Glaub’ mir, das sieht nur grausam aus, hat mich anfangs genauso entsetzt. Und am Ende gestehen sie doch alle, die auch.“
Karl nickte und dachte an sein Weib, mit dem er sich erst kürzlich vermählt hatte. Auch sie lebte hier in dieser Stadt und könnte ein Opfer neu aufflammender Hexerei werden. In diese Vorstellung steigerte er sich dermaßen hinein, dass Hans-Peter ihn zweimal ansprechen musste, ehe er reagierte. „Das Brot und den Wasserkrug!“
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