In der Kirche verblasste das Bild dieser Frau nur unmerklich vor Barbaras Augen und wurde durch die Predigt wieder deutlicher hervorgerufen.
Nicht nur Barbara musste an diesem Ostersonntagmorgen die Aufmerksamkeit der Leute ertragen. Hinter vorgehaltenen Händen hatte sich herumgesprochen, dass die Schwiegermutter des Totengräbers verhaftet worden war. Immer wieder stahlen sich Blicke in die letzte Reihe zu ihm, der scheinbar unbeteiligt neben Jörg saß. Jeder suchte vergebens nach einer Gefühlsregung in seinem Gesicht, was ihn freilich noch geheimnisvoller werden ließ.
Obwohl Barbara wusste, dass sie selbst derzeit ein begehrtes Ziel darstellte, konnte auch sie ihre Blicke nicht zurückhalten. Nur wenige Reihen hinter ihr, auf der anderen Seite, sah sie das Mariele zwischen den Bänken versunken sitzen, still und verstört im Gesicht. Barbara schauderte bei dem Gedanken, dass seine Weidegeschichten doch wahr sein sollten und ihre Ermahnungen das Kind davon hätten abhalten können, sie weiterzutragen. Wer von Hexerei erfuhr und es nicht meldete, machte sich selbst verdächtig.
Das Mariele musste ihren Blick auf sich bemerkt haben, denn es reckte den Kopf und erwiderte ihn. Geschwind schaute Barbara weg, schämte sich dann aber und gönnte der Kleinen wenigstens ein flüchtiges Lächeln. Hoffentlich hatte es sonst keiner erhascht. Barbara spürte feuchtes Getuschel im Nacken und senkte den Kopf ein bisschen tiefer.
Durch den Mittelgang von ihr getrennt, saßen Vater und Bruder. Noch immer wusste Barbara nicht, ob ihr Vater in jener Nacht den Lärm unter seinem Fenster mitbekommen hatte. Selbst wenn er ihm entgangen war, so schien es unwahrscheinlich, dass nicht anderweitig die Schmach seiner Tochter zu ihm gedrungen war. Bestmöglich ging Barbara ihm seither aus dem Weg und versuchte es über Michael heraus zu bekommen. Überhaupt wurde der Bruder seit den letzten Tagen für sie mehr und mehr ein Bindeglied zur Außenwelt. Zwar wusste er, dass die Burschen, und auch die Knaben aus seinem Verbund, ein Auge auf seine Schwester hielten und ihre Beziehung zu Franz missbilligten. Vom Charivari in jener Nacht hatte man ihn aber ausgeschlossen.
Barbara bedauerte, dass sie ihren Bruder offenbar in einen Zwiespalt zwischen sich und die anderen gedrängt hatte und verzieh ihm, wenn er seinen Unmut darüber an ihr ausließ. Mit Mädchen und Frauen, die sie bei der Arbeit traf, schwatzte sie nur noch Unverfängliches und ging ihnen möglichst aus dem Weg, auch Franz. Sie fand zunächst nicht einmal Gelegenheit, ihm zu versichern, dass sie sich keinesfalls von ihm abwenden wolle und nur auf eine günstige Gelegenheit warte, die ihnen einen Weg zueinander bahne, einen von der Öffentlichkeit geduldeten. Michael führte seit Tagen allein das Vieh zur Weide und erzählte seiner Schwester abends bei der Hausarbeit, was er tagsüber aufgeschnappt hatte. Barbara seufzte, als sie daran zurückdachte, wie schwierig es gewesen war, ihn zu überreden, Franz eine Nachricht in die Schusterwerkstatt zu schmuggeln. Sie hatte Michael Geld für die Reparatur seiner Schuhe gegeben – ein geringer Lohn für das Wagnis, dabei von Freunden gesehen zu werden, wie er fand. Harmlos pfeifend trat er zu Franz, der auf einem Hocker saß und Leder zuschnitt, während der Meister die Schuhe begutachtete. Erst Michaels aufgeregter Atem ließ Franz aufsehen, und ehe er Barbaras Bruder erkannte, war der auch schon verschwunden. Franz fühlte ein Stück Papier in der Hand, Barbaras Nachricht, worin sie sich weiterhin zu ihm bekannte. Doch Michael hatte eine Warnung hinzugefügt. Er solle ihr nicht mehr nachlaufen.
Vorerst hielt sie sich meist hinter schützenden Mauern verborgen. Dass sie sich um Martin kümmerte, der sich in besagter Nacht am Fenster verkühlt hatte und mit einer Erkältung darnieder lag, werteten einige als Vorwand und meinten, Barbara verschanze sich im Krankenzimmer vor der Außenwelt. Die junge Frau kümmerte sich nicht darum, denn viel zu sehr beanspruchte sie die Pflege des ihr seit Kindertagen Vertrauten. Martins Vater hatte sie durch seinen Knecht holen lassen, als sein Bub nach der durchwachten Nacht beim Hahnenschrei nicht aufstand, sondern von Schüttelfrost gebeutelt unter der Decke lag. Selbst schlaftrunken, folgte sie dem Ruf des Knechts, der von der Gasse heraufbrüllte, schlüpfte in ihr Kleid und hastete mit leerem Magen ins Nachbarhaus. Was Barbara bereits vermutete, erzählte Martin ihr unfreiwilligerweise durch Fieberfantastereien. Nachdem sie wusste, wie er sich erkältet hatte, wich sie kaum mehr von seinem Bett und verdrängte jedes eigene Bedürfnis. Martin lag mit schweißnasser Stirn auf zerwühltem Laken und starrte sie aus fiebrig glänzenden Augen an, als habe er eine Erscheinung. Sie lächelte, innerlich bestürzt darüber, ihn elender vorzufinden als erwartet, hockte sich neben sein Bett und trocknete seine Stirn notdürftig mit dem Zipfel ihres Kleides. Der Junge tastete nach ihrer Hand und drückte sie, damit sie seinen feuchten Fingern nicht entglitt.
Barbara wollte sie behutsam lösen, aber Martin drückte so fest, dass sie Gewalt anwenden musste. Er verzog das Gesicht, und sie fühlte sich von seiner Verlustangst, die ihn schmerzte, tief ergriffen.
Die Karwoche war seit dem Charivari dahingegangen, und Barbara musste sich am Ostersonntag erstmals wieder unter Leute wagen. Morgens an Karfreitag war es Martin so übel gewesen, dass sie bei ihm blieb und ihm von den Leiden Christi bei der Kreuzigung an diesem Tag erzählte. Das machte Martin beinahe stolz auf sein eigenes Elend, worauf es ihm gleich ein bisschen besser ging.
Wahrscheinlich wäre jetzt in der Kirche mehr Verachtung auf Barbara gefallen, wenn sich nicht inzwischen mehr ereignet hätte. Sie bemerkte plötzlich, dass sie noch immer die Hände zum gemeinsamen Gebet gefaltet hielt, obwohl der Pfarrer bereits predigte. Trotzdem fügte sie die stille Bitte an Gott hinzu, Martin Heiliger nicht für ihre Sünden büßen zu lassen. Wie der Bader meinte, sei er noch nicht außer Lebensgefahr und könne jederzeit einen Rückschlag erleiden.
Barbara schaute den Mittelgang entlang, die Kanzel hinauf zu Pfarrer Lammer in seinem schwarzen Talar und versuchte, sich auf die Predigt zu konzentrieren. Erst als Lammers Ton sich erhob und dazwischen fuhr wie eine Anklage, gewahrte sie, dass ihre Gedanken erneut abgeschweift waren, diesmal zu Franz. Überhaupt passte Lammers Tonfall nicht recht zu dem, was er sagte. Von der Auferstehung predigte er, von der Erlösung, sprach davon, dass Christus alle Schuld der Menschheit auf sich genommen habe. Es klang, als frage sich Lammer, ob die Menschen das auch wirklich verdient hätten. Habe sich nicht gleich nach der Auferstehung der Unglauben ausgebreitet, zuerst unter den Jüngern? Hatte Christus sie nicht gescholten, als die Elf zu Tische saßen, weil sie denen, die ihn sahen, nachdem er auferstanden war, nicht glauben wollten? War seine Mahnung nicht deutlich gewesen, dass nur selig werde, der da glaubet und getauft wird, die Ungläubigen aber verdammt würden?
Ja, auch in Bärenbrück drohe er sich wieder auszubreiten, der Unglauben. Satan wandle durch die Gassen, um die Menschen vom rechten Weg, vom rechten Glauben abzubringen, in die Irre zu führen. Er wolle sie verführen zu gottlosem Aberglauben, Götzenanbetung, Unzucht und Hexerei!
Lammers Stimme steigerte sich Wort für Wort.
Allen waren in der vergangenen Woche solche Schlagworte durch die Köpfe gegeistert – unausgesprochen, als könnten sie sonst Gestalt annehmen. Nun standen sie im Raum, sichtbar in grellen Bildern, von der Fantasie herbeigerufen und greifbar in atemgeschwängerter Luft. Ein Pfarrer hatte sie herausgefordert, ein Gottesdiener, und ihnen den Kampf angesagt. Unweigerlich legte Barbara beide Hände auf ihren Leib und warf scheue Blicke um sich, als könnte es jemand bemerken und seine Schlüsse daraus ziehen.
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