"Heute sollen sie nur erfasst werden, morgen geschieht vielleicht noch Schlimmeres mit ihnen."
"Mal nicht den Teufel an die Wand, warum sollten die so etwas tun?"
Er schaut sie von der Seite an, bleibt ihr die Antwort schuldig.
Doch er sollte recht behalten, denn noch im gleichen Jahr wird ein streng geheimer Runderlass des Reichsministers des Innern vorschreiben, dass behinderte Kinder von Hebammen und Ärzten gemeldet werden müssen.
"Den moralischen Fortschritt eines Landes kann man daran erkennen, wie die Gesellschaft mit Kranken und Behinderten umgeht", stellt er fest.
"Die Größe und den moralischen Fortschritt einer Nation kann man auch daran messen, wie sie ihre Tiere behandelt", ergänzt sie.
"Das hat ein berühmter Mann gesagt."
"Mahatma Gandhi, das haben wir in der Schule gelernt."
Doch er hört ihr nicht mehr zu, ist so in Gedanken vertieft, dass er gar nicht bemerkt, wie sie aufsteht, in ihr Zimmer geht, sich auf das Bett legt, ihren Arm unter den Kopf schiebt und verträumt an die weiße Decke schaut.
Von der Küche her kommt ein Geräusch, sie hört, wie er seine Zeitung zusammenlegt, den Stuhl zur Seite schiebt und an ihre Zimmertür tritt. Noch im Türrahmen stehend hat er das Gefühl, ihm würde ein bohrender Schmerz in den rechten Oberarm fahren, doch er ist sich ganz sicher, dass Herzinfarkte meist ihre Stiche in den linken Arm senden.
"Bist du schon wieder müde?"
Sie lächelt, reagiert nicht auf seine Worte. Er setzt sich auf die Bettkante, legt erst seine Hand auf ihren Kopf, dann umfasst er ihren Arm, der warm, ja fast heiß ist. Aus halb geschlossenen Augen bemerkt sie, wie er kurz gähnt, sich dabei langsam auf ihr Bett rollen lässt.
"Das ist ein Mädchenbett, wenn du dich auch noch darauf legst, wird es zusammenbrechen."
"Betten sind sehr stabil und brechen nicht so schnell zusammen", erwidert er. Von der Seite betrachtet sie seine nackte Brust, die durch das geöffnete Hemd hervorschaut und den Blick auf die hell gewellten, fast blonden Härchen freigibt, die störrisch in die Luft stehen. Sich plötzlich räuspernd, strafft er seinen Oberkörper, als müsse er Haltung annehmen, sie aber weiß gar nicht, warum er das tut, fragt ihn stattdessen, wo Oskar sei.
"In der Küche unter dem Tisch."
"Was war das eben?"
"Es hat geklingelt."
Er steht auf und flitzt auf Socken durch das Zimmer in den Flur, bleibt vor der Tür stehen, sagt, es sei nur der Postbote gewesen, legt sich wieder neben sie. Noch einige Zeit darüber grübelnd, warum der Postbote gerade bei ihnen geklingelt hat, dreht sie ihm das Gesicht zu.
"Du bist sehr hübsch, weißt du das, Lena?"
"Das hast du mir schon so oft gesagt."
"Und es ist ein Kompliment, warum willst du es nicht annehmen?"
Gedanken gehen ihm durch den Kopf und vom vielen Nachdenken bekommt er zuerst Kopfweh, dann macht sich ein seltsames Brummen in seinem Schädel breit und zu guter Letzt sieht er alles verschwommen, manchmal sogar doppelt. Doch im Nu überwindet er all diese Unannehmlichkeiten und berührt zärtlich ihre Haut, als fürchte er, Spuren auf ihrem Gesicht zu hinterlassen. Sie betrachtet ihn, spricht mit einer solch verführerischen und hingebungsvollen Stimme, dass er gar nicht anders kann und sie zu küssen beginnt. Hatte sie vor Sekunden noch Angst, seine Zärtlichkeiten zu erwidern, ist sie plötzlich voller Leidenschaft. Von einem Mann geküsst zu werden, das hat sie noch nie erlebt. Seine Hand fasst sanft unter ihre Bluse, streichelt ihre nackten Brüste. Wie Feuer durchdringt Wärme ihre Haut und sie spürt, wie sich ihre Brust in Sekunden verändert, größer, straffer wird. Ihre Lippen betrachtend gleiten seine Finger tiefer, umfassen die schmale Taille, die Hüften, betasten wieder ihre Wangen, zeichnen den Bogen ihrer Brauen, den weichen Schwung ihrer Lippen nach. Stunden liegen sie zusammen, ineinander verschlungen, wollen sich gar nicht mehr voneinander lösen.
"Ich bin so glücklich, dass ich dich habe", flüstert er, als wollte er seine Stimme dem ruhigen sanften Licht anpassen, das mittlerweile von draußen in das Zimmer dringt. Dabei tasten sich seine Augen durch die Dämmerung, die den Nachmittag in einem zwielichtigen Schimmer erscheinen lassen. In diesem Moment spürt sie nichts mehr von der Kälte, die sie so oft umgibt. Als wäre sie in einer glitzernden Märchenwelt gefangen, nimmt sie nur noch ihn wahr. Gefühle durchfluten das Zimmer, lassen Empfindungen höher schweben, und sie sieht den Himmel über sich, der, als habe man ihn erleuchtet, zu strahlen beginnt. Beide schweben auf einer Wolke von Stimmungen, einer Mischung aus Glück und Zufriedenheit, aber auch der Gewissheit, etwas Verbotenes zu tun.
"Verzeihung", sagt er plötzlich, reißt sie aus ihren Träumen, sie hält ihm den Finger auf den Mund, möchte, dass er still ist, doch er lässt sich nicht beirren.
"Wir dürfen das nicht", flüstert er und sie spürt die Bedenken und seine Bedrücktheit sogar in seiner Stimme.
Eigentlich ist er das Urbild eines ordentlichen Bürgers, der Sicherheit und Vernunft zugeneigt, doch nur Augenblicke zuvor scheint all das aus den Fugen geraten zu sein und er fühlt sich gewissermaßen zwischen zwei Welten zerrissen: einer solid-bürgerlichen, in der alles geregelt ist und vernünftig zugeht, und einer abenteuerlichen, von den Geheimnissen einer verbotenen Liebe durchdrungenen Welt. Gleichzeitig spürt er, wie der Widerstand in ihm erlischt, das Verbotene und Ungewisse aufzuhalten.
Nach einer Weile ruhiger geworden und mit klarem Kopf steht er auf, huscht mit leisen Schritten in den Flur. Sie hört, wie er in sein Zimmer geht, weiß, dass sie verliebt ist, nur noch Augen für ihn hat, kuschelt ihr Gesicht in die Daunen des Kissens, schläft wie ein satter Säugling in der Wiege ein.
Am nächsten Morgen hört sie, wie er sich im Flur die Schuhe anzieht, die Jacke überstreift, plötzlich neben ihr steht, sie in die Arme nimmt und fest an sich drückt.
"Ich bin bald zurück, machst du mir etwas Leckeres zu essen?"
Obwohl sie genau versteht, was er sagt, will sie nicht antworten, steht vom Stuhl auf, sieht ihm durch das geschlossene Fenster nach, wie er die Straße hinuntergeht. Heftig atmend patscht er durch wasserspritzende Pfützen, überspringt am Marktplatz einige Stufen der Steintreppe, reibt sich die feuchten Hände an der Hose ab und erreicht das Gebäude, wo, zwischen Bäumen versteckt in einem parkähnlichen Gelände, das Büro liegt. Seit Jahren ist er dort als leitender Buchhalter einer Schuhfabrik tätig.
Ruckartig zieht er die schweren Samtvorhänge auf und es ist ein schöner Tag, man kann den Frühling bereits riechen.
"Ich habe etwas von deinem Vater bekommen."
Er berührt ihr Gesicht, zieht eine Linie über ihre Wange, über den Mund und ihre Augen, schmunzelt. Lena ist von seinen Worten so überrascht, dass sie zunächst denkt, er habe sich einen Spaß erlaubt.
"Nein, ist nicht wahr, was ist mit meinem Vater?", unterbricht sie ihn, ist viel zu ungeduldig, seine umständlichen und langatmigen Erklärungen abzuwarten.
"Geld, er hat Geld für dich überwiesen."
"Ach ja, Geld, und ist sonst etwas von ihm gekommen, vielleicht ein Brief?"
Er übergibt ihr ein Kuvert. Sie will den Umschlag aufreißen, um zu schauen, ob noch etwas darin ist, erkennt aber schnell, dass er bereits geöffnet ist und sie ihn mit ihren hektischen Bewegungen beinahe auseinandergerissen hätte.
"Wie viel hat er denn überwiesen?"
"Einen stattlichen Betrag", er nennt ihr eine Summe.
"Ist ja ein halbes Vermögen."
"Na, übertreibe nicht, das Leben ist heute sehr teuer geworden."
"Wohnt er noch in Hamburg?"
"Diese Frage kann ich dir nicht beantworten, ich weiß es ebenso wenig wie du, schau auf den Absender."
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