Ann-Katrin Wallner
Sehnsucht einer Stieftochter
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Inhaltsverzeichnis
Titel Ann-Katrin Wallner Sehnsucht einer Stieftochter Dieses ebook wurde erstellt bei
Seeluft
Beobachtung
Kein glücklicher Tag
Ein aufregender Abend
Blick zurück
Wenn der Himmel zu strahlen beginnt
Kein schöner Anblick
Der Affe
Wenn die Leidenschaft die Vernunft besiegt
Chronologie eines Abends
Den Freund gibt es nicht mehr
Die Rosenbaums
Keine gute Partie
Ungewöhnliche Nacht
Im Tiergarten
Vorahnungen
Ohne Hoffnung
Auf dem Weg nach Frankfurt
Im Schrebergarten
Weggezogen
Eine andere Welt
Seltsame Menschen
Das Kind, das nicht mehr sprechen will
Entschluss
Mittendrin in der anderen Welt
Schlechte Nachrichten
Wieder zu Hause
Düstere Zeiten
Inferno
Kurzer Lichtblick
Schwelende Fassaden
Aufbruch in eine andere Zeit
Für ein gutes Leben zu wenig
Erinnerungen an eine alte Couch
Der besondere Tag am Flussufer
Der verwilderte Garten
Wechselspiel der Gefühle
Einen Seelenklempner brauche ich nicht
Aussprache
Übrig geblieben
Impressum neobooks
Unter prächtiger Nachmittagssonne, die Türen des Abteils weit geöffnet, sitzen sie nun schon seit Stunden. Das eintönige Rattern des Zuges macht müde. Lena schaut erst zur Mutter, dann zum Vater, der ihr gegenübersitzt und seine Zeitung liest.
"Sind wir bald da?", fragt sie den Vater, der das gar nicht hören will, denn er muss den spannenden Artikel zu Ende lesen, bevor sie Zinnowitz erreichen. Und für den Fall, dass er sich schwerhörig stellen will, was er schon gerne mal tut, wiederholt sie ihre Worte.
"Ja, gleich ist es so weit", bemerkt die Mutter. Sie weiß, dass sie die Frage ihrer vierzehnjährigen Tochter nicht einfach unbeantwortet lassen kann. Als sie vorhin am Speisewagen vorbeigekommen sei, habe es dort nach Spiegeleiern und Speck gerochen, schwärmt Lena. Schon möglich, erklärt die Mutter, doch sie hätten sich ihr Essen im Rucksack selbst mitgebracht. Lena spürt, dass ihr Gequassel die Eltern ermüdet, ist von nun an besser still, wischt sich einen eingebildeten Krümel von der Bluse und beginnt zu dösen. Dabei entgehen ihr zunächst eine weitläufige, wenn auch sehr flache Graslandschaft, dann ein paar Felder, auf denen dunkle, komisch anmutende Vögel mit langen Beinen stehen. Eigentlich ist diese Gegend hier eine perfekte Einstimmung auf das, was sie gleich erwartet, doch nach ein paar Minuten ist Lena schon eingenickt und in einen ebenso unruhigen wie kurzen Schlaf gefallen. Als sie vom lauten Schnaufen der Lokomotive wach wird, weiß sie, dass das Ostseebad Zinnowitz nicht mehr weit sein kann.
Es ist der erste heiße Tag im Sommer 1937. Der Wind ist träge, durchstreift kaum spürbar die Luft. Nicht nur die Menschen, auch die Tiere bereiten sich auf einen extrem heißen Tag vor. Wie eine Glocke liegt die Hitze über der Landschaft und eine sanfte Brise kräuselt das Meer, Wellen plätschern am fast menschenleeren Strand. Noch weht eine deutsche Flagge an einem hohen Mast, der sich schon bald neigen und laut krachend in den Sand fallen wird.
Von der Sonne geblendet, sieht Lena sich blinzelnd um, beobachtet, wie der Vater aufsteht und sich zu strecken beginnt. Sie kann spüren, wie die Lokomotive an Fahrt verliert, schließlich stehen bleibt, und da liegt er auch schon vor ihr: der nicht sehr große, gleichwohl umso schmuckere Bahnhof des Ostseebades Zinnowitz. Sofort fällt ihr die schöne Jugendstil- und Bäderarchitektur der Häuser auf, die etwas abseits liegen. Die Gebäude sind beeindruckend, doch es hat noch einen anderen Grund, dass sie ihr Interesse finden. In einem Buch hat sie Interessantes über die Jugendstilbewegung und die Zeitschrift "Die Jugend" gelesen, die der Bewegung ihren Namen gegeben hat.
Vom langen Fahren ermattet, bewegen sie sich unter wolkenlosem Himmel, erreichen eine kleine, freundliche Pension, die an einen hübsch angelegten Garten angrenzt, dessen bunte Blumenpracht von allen sofort bewundert wird. Zwei Männer in schwarzen Anzügen und mit dunklen Kappen, die sie sich weit ins Gesicht gezogen haben, bemühen sich um die Koffer, bringen die Gepäckstücke auf ein Dreibettzimmer. Die Mutter setzt sich in den Sessel, zieht sich sogleich die Schuhe aus. Nur Lena steht noch immer am Fenster, bewundert den Garten, denkt darüber nach, ob auch Gärten im Jugendstil angelegt werden können. Aus diesem Blickwinkel kann sie weit in die Ferne schauen, sieht das grau-blau glitzernde Meer, auch ein paar kleine weiße Ausflugsdampfer, die dort vor Anker liegen. Der Vater, groß, breitschultrig, lehnt sich lässig an die Schranktür und lächelt. Leute gehen an der offenen Zimmertür vorbei, und wem sein Lächeln gerade gilt, weiß sie zwar nicht, wünscht sich aber, dass es ihr gelten möge. Er ist nicht ihr leiblicher Vater, die Mutter hat sie mit in die Ehe gebracht. Seine ruhige, gelassene Art, die weniger auf eine dicke Brieftasche als auf innere Ausgeglichenheit und Zufriedenheit schließen lässt, gefällt ihr. Die Besonnenheit und Souveränität sind es, die sie so an ihm bewundert. Noch immer mit diesem Schmunzeln auf den Lippen geht er schnurstracks auf sie zu, nimmt sie in den Arm. So gut wie bei dieser Umarmung hat sie sich lange nicht gefühlt. Mit einem Gesichtsausdruck jugendlicher Versonnenheit vergisst sie sogar kurz das Atmen. Eine ganze Weile sieht sie ihn an, kann gar nicht anders, als ihrem Lächeln einen Blick voll Zärtlichkeit folgen zu lassen.
"Hast du für heute ein Programm?", fragt sie den Vater.
Der hebt nur den Kopf und das kleine Grübchen an seinem Kinn vergrößert sich zusehends, macht seinen Gesichtsausdruck noch interessanter als sonst.
"Heute machen wir nicht mehr viel", schallt es aus einer Nische des Zimmers. Es ist die Mutter. Und sie meint, noch hinzufügen zu müssen, dass sie morgen ganz früh zu einem Ausflug aufbrechen werden, hofft, nun alles, was für die Tochter von Interesse ist, gesagt zu haben. Die ist auch sofort still und bis zum Abendessen, das sie im Speisesaal der Pension einnehmen, sagt sie kein Wort mehr.
Am nächsten Morgen sitzen sie in einem großen hellen Frühstückszimmer mit Blick auf den Garten, auf Hecken und stark duftende Rosenbüsche, die in voller Blütenpracht stehen. Lena ist aufgekratzt, bricht grundlos in Gelächter aus, lässt die weiße Serviette zu Boden segeln, läuft puterrot an, als drohe sie zu ersticken.
"Was ist mit dir?"
Die Mutter klopft ihr ein paar Mal auf den Rücken, als wäre sie eine Stoffpuppe, aus der man den Staub herausklopfen müsste.
"Nichts, gar nichts, ich habe mich nur verschluckt, bin ein bisschen überdreht", krächzt Lena, und obwohl sie sich noch vor Minuten geschworen hat, von nun an nicht mehr so viel zu reden, hat sie diesen Vorsatz schnell vergessen und hört gar nicht mehr auf zu quasseln. Sie sei ganz schön überdreht, bemerkt der Vater, der augenzwinkernd von seiner Zeitung aufschaut. In diesem Moment genießt sie seinen Blick, will ihn festhalten, denn seine gute Laune könnte sich ja schnell ändern und dieses Glück kaputt machen. Plötzlich wird es laut im Speisesaal. Gäste beginnen, miteinander zu diskutieren. Worum es bei der Auseinandersetzung geht, ist schwer auszumachen. Einige raufen sich theatralisch die Haare, andere machen seltsam schnappende Mundbewegungen, ringen nach Luft. Lena kratzt sich nur versonnen am Kinn. Nach ein paar Minuten haben sich die Gemüter auch wieder beruhigt. Sie ist von den diskutierenden Gästen so beeindruckt, dass sie nur dasitzt, den Mund weit geöffnet, worauf die Mutter sie bittet, noch eine Scheibe Brot zu sich zu nehmen, denn sie hätten nur Halbpension gebucht und da gebe es erst heute Abend wieder etwas zu essen. Das Mädchen nickt, der Vater nickt auch, hat die Zeitung zur Seite gelegt, erzählt den beiden Frauen, welches Ausflugsprogramm er sich für heute ausgedacht habe. Die finden seine Vorschläge fabelhaft, ja grandios, wie Lena kurz einwirft, wollen sofort aufbrechen, denn mit dem Linienbus soll es dorthin gehen, wo vor tausend Jahren die Wikinger landeten. Der Vater hievt den Rucksack auf den Rücken, den die Mutter schon vor einer halben Stunde gepackt hat, und sie laufen zur Bushaltestelle, die nicht weit von der Pension entfernt liegt. Erregt geht er auf und ab, meint, der Bus müsse längst da sein. Das Gesicht nach oben gerichtet, blinzelt er in die Sonne und zeigt wieder dieses Schmunzeln um den Mund, das Lena so fasziniert. Augenblicklich verliert sie sich in Gedanken, spürt, dass er ihre Gefühle durcheinanderbringt.
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