Ein Wagen, der nicht sehr vertrauenerweckend aussieht, braust heran, und es kann endlich losgehen. Einmal eingestiegen, werden die Passagiere kräftig durchgeschüttelt, jedes noch so kleine Schlagloch spüren sie in allen Knochen. Vom Fahren teilnahmslos geworden, starrt der Vater aus dem Fenster, trommelt auf den Ledersitz des Omnibusses.
"Weißt du, wann wir aussteigen müssen?", fragt Lena mit zarter Stimme.
Der Vater nickt. In einschläfernd langsamer Fahrt geht es weiter durch die Felder und der Vater wie auch die Mutter beginnen zu dösen. Diese Gegend hier sei nicht sehr schön, gefalle ihr nicht, meint Lena und sendet damit nicht nur ein kurzes Beben in die eingetretene Stille, sondern erntet auch den empörten Blick der Eltern. Ihr ist klar, dass sie mitten im Fettnäpfchen gelandet ist.
"Kommt, wir müssen aussteigen", durchbricht eine Stimme die Beschaulichkeit, mit der der Bus vor sich hin tuckert.
Es ist die Stimme des Vaters, der langsam, beinahe auf Zehenspitzen zum Ausgang tänzelt und im Flüsterton den anderen Fahrgästen "auf Wiedersehen" sagt, ihnen zum Abschied sogar noch zuwinkt. Dann stehen sie inmitten von abgeernteten Feldern, sind sich sicher, in der Eintönigkeit der Landschaft erst einmal die Orientierung verloren zu haben. Der Vater weist mit der Hand nach vorn und meint: "Hier geht es lang", versucht, den Frauen bestimmt, aber höflich den Weg zu weisen.
"Wo sind wir hier eigentlich?"
"In Peenemünde", beantwortet der Vater Lenas Frage, schreitet voran, Tochter und Mutter im Gänsemarsch hinterher. Ob dieses Peenemünde mit "h" geschrieben werde, will Lena wissen. Die Mutter schüttelt den Kopf, meint, so etwas wisse doch jedes Kind, dass man Peenemünde mit zwei "e" schreibe.
Die Vormittagssonne strahlt noch im flachen Winkel, hält die Farben blass. Ein asketisch wirkender Mann mit grauer Nickelbrille geht an ihnen vorbei, sagt "Guten Tag", dann ist es mit einem Schlag still. Und auch in den nächsten Stunden läuft die Konversation zwischen den drei einsamen Wanderern nicht eben fließend, sei es aus Müdigkeit oder gar wegen der Hitze, die über dem Land brütet. Irgendwo dort vorne, die Schwüle macht das Auge träge, sehen sie einen Zaun. Wenig später erspähen sie auch das Schild mit der Aufschrift "Militärisches Sperrgebiet, Lebensgefahr und Schusswaffengebrauch". Lena bemerkt, dass sie noch nie ein militärisches Sperrgebiet betreten habe, äußert den Wunsch, es erkunden zu wollen, denn bestimmt gebe es dort Geister. Die Eltern sind genervt, aber nicht von ihrem Gequassel, sondern von der jugendlichen Fantasie, die ihr an besonders heißen Tagen schon mal außer Kontrolle gerät. Der Vater winkt ab, meint "viel zu gefährlich", das meint auch die Mutter und Lena gibt klein bei. Plötzlich dreht er sich um, sagt, von irgendwoher komme das Geräusch eines Wagens. Die Mutter ist anderer Meinung, will weder etwas gesehen und schon gar nichts gehört haben, ist der festen Überzeugung, dass er sich das nur einbilde. Der Vater lässt sich nicht beirren und nach ein paar Minuten taucht auch ein LKW auf, bleibt ruckartig stehen und zwei Männer in Uniform springen heraus.
"Das ist militärisches Sperrgebiet, hier können Sie nicht einfach herumspazieren, überschreiten Sie ja nicht die Sperrlinie."
"Was verbirgt sich hinter diesen Zäunen?"
"Was soll sich schon dahinter verbergen?"
Der größere der beiden Uniformierten deutet auf das Warnschild und ohne die Frage des Vaters zu beantworten, öffnet er ein großes, mit grünen Planen bedecktes Tor.
"Frag doch nicht so viel, sei lieber still", hört Lena die Mutter im Hintergrund raunen.
"Kann ich mal mit reinkommen?", fragt Lena den völlig verdutzten Mann in der schicken Uniform, der zunächst heftig schluckt, sie dann abschätzig von der Seite betrachtet.
"Wenn du die Sperrlinie überschreitest, muss ich von meiner Schusswaffe Gebrauch machen."
"Schusswaffe, oh Gott! Sie machen bestimmt Scherze", sagt Lena schon etwas kleinlauter.
"Eigentlich mache ich selten Scherze, das ist nicht meine Art", erwidert der Mann in Uniform in einem ebenso harten wie pflichtbewussten Ton. "Kommst du auch aus dem Osten?"
"Wieso aus dem Osten? Ich komme aus Frankfurt am Main, warum denken Sie denn, dass ich aus dem Osten komme?"
"Viele, die so fremdländisch aussehen wie du, kommen jetzt aus dem Osten."
"Aha", sagt Lena nur, schaut brüskiert, vielleicht auch ein bisschen hilfesuchend zur Mutter. Die stößt ihr die Hand in den Rücken und schiebt sie schnell weiter, will, dass das Mädchen endlich still ist, sich nicht noch um Kopf und Kragen redet. Sie solle sich künftig besser überlegen, was sie sage, und nicht so forsch auf fremde Menschen, schon gar nicht auf Uniformierte, zugehen, ruft der Vater streng.
"Wieso denn das?"
"Mit diesen Leuten ist nicht zu spaßen."
An sich wird der Vater selten wütend, diese Fähigkeit scheint ihm abzugehen, doch jetzt bekommt er vor Ärger einen hochroten Kopf. Lena kann sich gar nicht erinnern, ihn jemals so aufbrausend gesehen zu haben."
"Was waren das für Männer?" , fragt sie.
"Schutzstaffel", antwortet der Vater lapidar.
"Schutzstaffel", murmelt Lena nachdenklich vor sich hin, obwohl sie mit diesem Wort überhaupt nichts anfangen kann.
Als sie beim Abendessen in der Pension sind, setzt sich der Wirt, ein freundlicher älterer Herr mit grau melierten Haaren und auffallend wackliger Prothese, die er manchmal durch den Mund schaukelt, an ihren Tisch.
"Wissen Sie, dass es bei Peenemünde ein militärisches Sperrgebiet gibt?", fragt der Vater und schaut von seinem Essen auf, als würde er geradezu vor Neugierde platzen, endlich aufgeklärt zu werden.
"Geheimsache", stellt der Wirt flüsternd fest. "Die testen dort Raketen. Seit 1936 gibt es eine Heeresversuchsanstalt. Genaueres weiß keiner, zwischen Tatsachen und Gerüchten ist nur schwer zu unterscheiden."
"Manchmal sickert etwas durch, wenn neue Straßen gebaut, Schienen verlegt und Häfen angelegt werden, viele Spuren werden jedoch bewusst verwischt", erklärt seine Frau sehr leise, die sich ebenfalls zu ihnen gesetzt hat.
Vor dem geöffneten Terrassenfenster erspäht Lena drei fremdländisch aussehende Männer mit blau-schwarzen Haaren und Augen, die wie Schlitze aussehen.
"Schau mal, was sind das für seltsame Leute?"
"Die Söhne Nippons."
"Wie bitte, wer ist das?"
"Japaner", raunt die Mutter, füllt mit der Behutsamkeit einer Hebamme und der Flinkheit einer Spitzenklöpplerin die kleine Thermoskanne mit kaltem, köstlich duftendem Tee.
"Die Gegend um das Fischerdorf Peenemünde ist schon immer einsam gewesen und eignet sich für außergewöhnliche Dinge. Selbst die Schweden haben das erkannt, als sie im Dreißigjährigen Krieg mit ihrem König dort gelandet sind, um sich mit den kaiserlichen Habsburgern zu zanken", weiß der Wirt zu berichten.
"Peenemünde ist nach dem Dreißigjährigen Krieg sogar einmal schwedisch gewesen", meint die Wirtin hinzufügen zu müssen.
Noch vierzehn Tage bleiben sie in der kleinen Pension in Zinnowitz, dann geht es zurück. Und wieder ist es eine lange und monotone Bahnfahrt. Die Lokomotive faucht und zischt, kommt an einem kleinen Bahnhof zum Stehen.
"Schau mal, die Männer dort drüben mit den Gewehren", ruft Lena und rüttelt die Mutter aus dem Schlaf.
"Schutzstaffel", antwortet die nur und ist sehr ungehalten.
"Haben die denn nichts Besseres zu tun, als am Bahnhof herumzustehen und den Zügen nachzuschauen?"
"Mensch, Lena, woher sollen wir denn das wissen?"
"Hätte ja sein können, ihr wisst ja sonst immer alles", entgegnet sie dem Vater. Wenig später fährt der Zug langsam an, nimmt wieder Fahrt auf und schnauft zunächst durch Felder und Wiesen, durchquert dann einen Tunnel. Mit ausgestreckten Beinen sitzt der Vater den beiden Frauen gegenüber und döst. Lena betrachtet das kleine Grübchen an seinem Kinn, wünscht sich, von ihm in den Arm genommen zu werden, ist plötzlich voller Leidenschaft, spürt zugleich den strengen Blick der Mutter, die sie von der Seite beobachtet. Auch sie hat dunkel gelockte Haare und Lena ist sich sicher, dass sie mit ihren braunen feurigen Augen ebenso fremdländisch aussieht wie sie selbst.
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