"Möglich", antwortet sie nur, fühlt die besondere Wärme, die von seiner Hand ausgeht, die er ihr auf die Schulter legt. Doch blitzschnell erhebt er sich, läuft in sein Schlafzimmer.
"Komm mal, ich will dir etwas zeigen."
Sie betritt den Raum, wo er schon vor dem großen Kleiderschrank steht. Sein Bett ist nicht gemacht, zerwühlt, das weiße Laken ist verrutscht. Ein noch zartes Sonnenlicht wirft schon einen hellen Streifen auf den Fußboden.
"Schau, die vielen schönen Blusen. Bestimmt passt dir eine davon."
Zaghaft schüttelt sie den Kopf und meint, Mama sei etwas fülliger gewesen.
"Probier sie an", bedrängt er sie, und obwohl sie gar keine Lust hat, Kleider anzuprobieren, lässt sie sich darauf ein. Er legt ihr zwei Pullover in die Hand, die er sorgfältig ausgewählt hat. Obwohl ihre großen Brüste noch von einem grauen Wollpulli bedeckt sind, wirken sie ungemein aufregend auf ihn.
"Schau mal, die warmen Farben passen zu deinem dunklen Haar."
Er deutet auf die beiden Kleidungsstücke. Sie hält sich die Pullis an, streift kurzerhand ihren grauen Pullover vom Oberkörper, zieht den der Mutter an, der unangenehm zu spannen beginnt.
"Du hast ja noch mehr Busen als deine Mutter."
Es klingt, als würde es ihn überraschen. Er beobachtet, wie sie ihre Hüften schwingt, betrachtet ihre hübschen Beine, die, als er weiter nach unten schaut, in glänzenden Lackschuhen enden. Keiner der Pullover passt ihr, er legt die Kleidungsstücke wieder zusammen, schiebt sie in das oberste Fach des Schrankes und zieht anschließend die schweren Stoffgardinen noch weiter auseinander. Die Morgensonne sieht nun mit all ihrer Kraft durchs Fenster, zieht einen Streifen hellen Lichts durch das Schlafzimmer, macht beiden gute Laune. Er lächelt, dabei fällt ihr wieder sein Grübchen am Kinn auf, wie es sich durch die schnelle Mundbewegung vergrößert und seinem Gesicht eine Attraktivität verleiht, ihn vom Scheitel bis zur Sohle zu einer makellosen und liebenswerten Erscheinung werden lässt.
Vor ein paar Wochen haben sie den Jahreswechsel gefeiert, obwohl sie sich an die neue Jahreszahl 1939 überhaupt nicht gewöhnen kann. Paul hat es sich in dem großen, hohen Lehnsessel bequem gemacht, trinkt Kamillentee, den sie ihm gekocht hat. Sie ist müde, gähnt, will in ihr Zimmer gehen, er hält sie am Arm fest.
"Gibst du mir noch einen Gutenachtkuss?"
"Natürlich", beteuert sie, als sie schon im Türrahmen ihres Zimmers steht, sich das kurze, flauschige Nachthemd anzieht, das sich wie eine zweite Haut an ihren Körper legt. Mit nackten Füßen tippelt sie wieder in das Wohnzimmer, drückt seinen Kopf an ihre Brüste, gibt ihm einen Gutenachtkuss auf die Stirn.
"Schlaf gut", sagt er. "Hörst du, schlaf gut", wiederholt er, umfasst ihre nackten warmen Beine, stößt ihr, ohne viel Kraft und Elan, sanft in die Rippen. Dabei durchflutet sie wieder dieses Gefühl, das sie immer spürt, wenn er sie berührt. So sicher wie in seinen Armen hat sie sich selten gefühlt. In dieser anheimelnden Atmosphäre und in Erwartung dessen, was noch kommen könnte, bleibt sie neben ihm stehen und betrachtet seine braunen Straßenschuhe, die vor Sauberkeit blitzen. Selbst seine in der Mitte gescheitelten Haare liegen tadellos. Doch ihre schöne Erwartung ist wie weggeblasen, als sie den Empfänger wieder einschaltet. Das vierte Kind aus dritter Ehe des Alois Hitlers, eines österreichischen Zollbeamten, spricht zu seinem Volk: Adolf! Sie hört sich das nicht lange an, schaltet den Empfänger wieder aus, denn der Mann spricht nicht nur hart und laut, sondern rollt dazu noch das "r". Der Vater eilt ein paar Mal durch den Raum, meint, es sei gut, dass sie diesem Mann nicht nur die Stimme, sondern auch die Worte genommen habe. Gedankenverloren schaut sie ihm nach, beobachtet, wie er in sein Schlafzimmer geht, sich das Hemd aufknöpft, es über den Stuhl hängt. Nur seine Unterhose behält er an, ein etwas unförmiges, vom vielen Waschen ergrautes, ausgeleiertes Wäschestück. Bald darauf hört sie sein lautes Schnarchen, fühlt so etwas wie Zufriedenheit, vielleicht auch Glück, etwas, was sie immer fühlt, wenn er in ihrer Nähe ist.
Die Glocken einer nicht weit entfernt liegenden Kirche läuten. Zunächst gähnt sie und verflucht dieses verdammte Gebimmel, das sie eben aus dem Schlaf gerissen hat. Nach ein paar Minuten gewöhnt sie sich daran, findet es sogar romantisch, dass sie Glocken hört.
"Aufstehen, aufstehen", säuselt eine Stimme.
Paul steckt seinen Kopf in ihre Zimmertür und bleibt zunächst stehen. Kurz darauf entscheidet er sich anders und schreitet auf ihr Bett zu.
"Komm, setz dich."
Sie weist ihm ein Plätzchen auf der Matratze zu, die in der Mitte schon durchgelegen ist und beim Draufsetzen laut zu knarren beginnt. Er riecht gut, frisch gebadet, genauso wie sie. Zugegeben, die samstägliche Badezeremonie ist etwas umständlich, denn sie findet mangels eines richtigen Bades in der Küche in einer nicht allzu großen Wanne statt. Als die Mutter noch lebte, ist erst der Stiefvater, dann Agnes und zu guter Letzt auch Lena in das nur lauwarme Wasser gestiegen.
Er streicht ihr über die Wange, umfasst ihre Schultern und bemerkt mit leiser Stimme: "Ich bin so froh, dass ich dich habe."
Sie spürt die Wärme seiner Haut, schließt die Augen, strahlt in diesem Augenblick eine Zufriedenheit aus, die ihr das Leben leicht und unbeschwert macht. Etwas unbeholfen rollt er sich von der Matratze und steht auf. Noch im Türrahmen stehend ruft er ihr zu, dass er mit dem Hund Gassi gehen wolle, schlurft in seinen alten und bereits ausgetretenen Romikahausschuhen in den Flur, leint den Hund an, der freudig zu bellen beginnt. Gerne würde er sich ein paar neue Hausschuhe dieser Marke kaufen, die Inhaber von Romika aber sind Juden und mussten längst fliehen. Und die neuen arischen Eigentümer, die das Unternehmen wahrscheinlich weit unter Wert erworben haben, will er nicht unterstützen, da ist er konsequent. Als sie aufrecht vor dem Spiegel steht, bürstet sie ihr Haar, geht in das Zimmer zurück, zieht sich erst die Strümpfe, dann einen weiten, bequemen Rock mit der dazu passenden Bluse an.
"Hast du schon Kaffee gemahlen?"
Sie schaut betreten, erklärt, das habe sie vergessen.
"Wie kannst du es nur vergessen, das ist nun deine Aufgabe."
"Jawohl, mein Herr", sie nennt ihn erst beim Vor-, dann beim Nachnamen.
"Warum kochst du diese Wäsche auf dem Gas? Hast du schon deine Tage?"
Diese Frage ist ihr unangenehm, sie errötet.
"Ja, meine Monatswäsche", sagt sie, blickt verlegen auf den Fußboden, holt zwei Teller aus dem Küchenschrank, setzt sich auf den braunen Holzstuhl, der etwas abseits am Fenster steht. Sie spürt so etwas wie Dampf, der ihr in die Augen steigt. Es ist jedoch nur der Dampf der Wäsche, die auf dem Herd steht und dort kocht.
"Gehst du gerne zur Schule?", fragt er völlig unvermittelt, schnalzt mit der Zunge, und sie weiß gar nicht, warum er gerade jetzt diese Frage stellt.
Doch als würde ihn das Zeitunglesen mehr interessieren als ihre Antwort, widmet er sich sofort wieder der Lektüre, sie bemerkt es und sagt zunächst kein Wort mehr. Mittlerweile denkt sie an diesen seltsamen Lehrer, der heute vertretungsweise den Unterricht gehalten und erzählt hat, er müsse bald nach Afrika gehen, um die verwirrten Negerseelen zu den abendländischen Werten zu bekehren.
"Furchtbar, furchtbar!", ruft Paul plötzlich so laut, dass seine Worte die gerade eingetretene Stille wie einen Paukenschlag durchbrechen.
"Es ist ein 'Reichsausschuss zur wissenschaftlichen Erfassung von erb- und anlagebedingten schweren Leiden' gegründet worden. Alles wollen sie katalogisieren und registrieren, alles soll gemeldet werden. Es würde mich nicht wundern, wenn sie irgendwann schon den Gesundheitszustand der Neugeborenen in Meldebögen erfassen. Was das für behinderte Kinder bedeutet, mag ich mir gar nicht vorstellen", hört sie ihn schimpfen. Was daran so abscheulich sei, fragt sie, denn es ist ihr ziemlich unverständlich, dass er sich darüber so aufregt.
Читать дальше