„Hm, ich weiß nicht. Prerow und meine Eltern waren mein erster Gedanke, nachdem ich meine Koffer gepackt hatte und einfach nur weg wollte. Irgendwie bin ich mit der Situation überfordert. Ich habe mir in Berlin ein Leben aufgebaut und dachte, ich habe ne tolle Beziehung. Außerdem habe ich einen Job, den ich über alles liebe. Ja klar, ich war noch nie wirklich ein Stadtkind, aber hey, Kompromisse geht doch jeder im Leben einmal ein. Doch ich muss das jetzt erst mal verarbeiten und überlegen, wie es jetzt weitergeht.“
Eine ganze Zeit ist es still, sodass ich meinen Gedanken nachhänge. „An was denkst du?“, fragt mich Sven und verringert unseren Abstand.
Ich glaube jetzt werde ich rot. Ob er meine Gedanken erraten kann? „Ich habe an früher gedacht.“
Wissend fängt er an zu nicken, „Ja, früher war alles anders.“
Mit seiner Aussage kann ich jetzt auch nichts weiter anfangen, ich fahre nämlich schon wieder Karussell in meinem Kopf. Das war jetzt eindeutig zu viel Kopfarbeit für meinen betrunkenen Geist. Der morgige, nein, der heutige Tag wird mein Tod. Die Cosmos werden mich leiden lassen. Als ich wieder zu Sven aufschaue, kann ich seinem intensiven Blick nicht länger standhalten. Ich erhebe mich wieder von meinem Barhocker und stehe nun direkt vor ihm. Sven trägt ein bedrucktes T-Shirt, dessen Saum ich nun anfasse, während ich verschmitzt nach oben schaue. „Und Sie, Sven Kräft? Sind Sie single oder gibt es hier eine glückliche Frau, die Ihr Herz für sich gewonnen hat“, starte ich meine plumpe Anmache und beiße mir klischeehaft auf meine Unterlippe - in der Hoffnung, dass es ihn antörnt.
Herrgott, ich brauche unbedingt Komplimente, Aufmerksamkeit und Sex. All die Dinge, die ich in den letzten Monaten nicht bekommen habe, die ich mit meinem Hungern und meiner Essstörung versucht habe, von Frank zu bekommen. Denn alle Barbies in seinem Umfeld tragen Kleidergröße 32. Doch nichts kam. Tja, mein Essen auslassen, dafür aber viel Alkohol zu trinken, werden wohl - genau wie heute - keine dicken Freunde werden.
Sven legt seine Hand an meine Wange, was mich ihm direkt in seine schönen Augen schauen lässt. Sie sind so grün, wie der See, an den der Garten meiner Eltern grenzt, es im Sommer ist. „Ich habe deine Augen schon immer geliebt, darin konnte ich mich schon seit ich dich kenne verlieren.“
Warum ich jetzt so eine gequirlte Scheiße von mir gebe, weiß ich nicht. Ich bin einfach nicht mehr Herrin meiner Sinne. Bitte küss mich und nimm mich auf dem Tresen. Mir schießen vielleicht Gedanken durch den Kopf. Doch Sven sagt keinen Ton und küsst mich nur auf die Nasenspitze. „Komm, ich bring dich heim, Sweety!“ Das verpasst mir einen weiteren Stich. Was habe ich an mir, dass Männer nicht mehr von mir wollen, als eine platonische Freundschaft. Ich schaue auf meine Füße. Jedenfalls glaube ich das, doch unsere Körper stehen so eng zusammen, dass ich sie nicht sehen kann. Und mit einem Mal passiert es. „Rüüülllp!“, entgeistert halte ich mir meine Hand vor den Mund und schaue erschrocken auf.
Ich habe tatsächlich gerülpst. Ich habe ihn so gesehen eben angerülpst, nachdem ich ihm von seinen Augen vorgeschwärmt habe. Wie peinlich ist das denn? Nicht auszudenken, wenn er mich in diesem Moment geküsst hätte. Ich vertrage anscheinend kein Wasser mit Kohlensäure. Das ist der Abgrund meines Tages.
„Entschuldige“, bringe ich nur heraus und merke dann, wie mir langsam die Tränen über die Wange laufen.
Ich drehe mich schnell von ihm weg. Etwas zu schnell, wie es scheint, denn mit einem Mal dreht sich alles. Ich halte mich für einen kurzen Moment an der Theke fest. Nachdem ich mich wieder gefangen habe, nehme ich meine Tasche von dieser und möchte an Sven vorbeirauschen. Doch er hält mich an meinem Arm fest. „He, lauf nicht weg. Es ist doch nichts passiert, Lin.“
Mit tränennassem Gesicht drehe ich mich abrupt um und beginne lauthals zu schluchzen. „Genau das ist ja das Problem! Bei mir passiert nie was. Außer dass ich meinen Freund in flagranti erwische und dir ins Gesicht rülpse. Wahrscheinlich muss ich mir meine Brüste doch aufpumpen lassen, damit ich von einem Mann mal als Frau wahrgenommen werde.“
Svens Augen werden mit einem Mal größer. „Hey, komm mal her. Was erzählst du denn da? Du denkst, Männer nähmen dich nicht wahr? So ein Unsinn!“
Ich sträube mich, mich von ihm zu sich ziehen zu lassen. „Dann erklär mir bitte, weshalb ich mir die Blöße geben musste, zu sehen, wie Frank diese dürre Schnepfe auf unserer Kücheninsel bumst.“
Mittlerweile hat er mich doch zu sich gezogen und schaut mich eindringlich an, bevor er antwortet:
„Ich kann dir nicht sagen, weshalb er so ein Idiot ist.“
Ich pruste Luft aus.
„Ich weiß nicht, was er für ein Kerl ist, doch anscheinend weiß er nicht, was er will und an dir hat.“
Jetzt sehe ich sicher aus wie Bambi, denn mein Blick ist mit dem eines Rehs hundertprozentig zu verwechseln. „Es tut so verdammt weh, wenn man so verarscht wird. Du wolltest mich ja auch nicht auf deiner Theke nageln.“ Ups, hab ich das jetzt laut gesagt? Scheiße was ist heute nur los mit mir? Erschrocken halte ich mir erneut die Hand vor den Mund.
Sven lacht jetzt ungläubig auf. „Lin, ich war noch nie der Typ, der eine Frau einfach so auf der Theke nimmt. Und schon gar nicht, wenn sie am gleichen Tag ihren Freund verlässt, nachdem er ihr fremdgegangen ist. So ein Arsch bin ich nicht. Und erst recht nicht, wenn sie sternhagelvoll ist.“
Jetzt stehe ich vor ihm wie ein Drops. Er nimmt meine Hand und führt mich aus der Bar. Ich schmeiße mir im Gehen meine Handtasche über die Schulter und lasse mich von ihm ziehen, nachdem er die Hintertür geschlossen hat.
„Du schläfst bei deinen Eltern?“
„Ja, das Kind wohnt wahrscheinlich jetzt wieder bei seinen Eltern“, antworte ich trotzig.
Sven lacht leise, doch ich habe es genau gehört. Wie ein bockiges Kind lasse ich mich die zwei Straßen von ihm zu meinen Eltern zerren. Meine Beine fühlen sich von dem Alkohol einfach viel zu schwer an, als dass ich alleine gehen könnte. Sven muss mich bei jedem Schritt nicht nur ziehen, sondern auch stützen.
„Lass dich nicht so hängen, Lin. Oder hast du Angst, du bekommst Hausarrest, wenn du betrunken nach Hause kommst?“
Jetzt stolpere ich auch noch über meine eigenen Füße. „Ha, ha, sehr witzig.“
„Was ist dann dein Problem?“
Sven scheint über meinen Zustand sichtlich amüsiert zu sein.
Endlich stehen wir vor der Tür meiner Eltern. Ich antworte Sven vielleicht ein wenig zu emotional, zu ehrlich und zu laut, doch es muss einfach raus. Also pikse ich ihm meinen Zeigefinger in die Brust, während ich losschimpfe: „Mein Problem ist, Mister, dass ich bisher nie das bekommen habe, was ich mir wünsche. Ich werde erniedrigt, denn alle außer mir werden von meinem Freund. Im Gegensatz zu den anderen Tussen, bin ich chronisch untervögelt. Mich will einfach keiner!“
Sven möchte gerade zu einer Antwort ansetzen, da geht die Haustür auf und mein Vater tritt hinaus. „Hey, Papa“, sage ich, gehe einen Schritt auf ihn zu und kuschle mich mit geschlossenen Augen an ihn. Wie peinlich diese Situation eigentlich ist, wenn ein Elternteil solche Aussagen seines Kindes hört, überreiße ich in diesem Moment gar nicht. Der Alkohol hat die Macht.
„Hallo, Gaston. Ich bring dir Lin wieder. Ich glaube, es war heute alles ein wenig zu viel für sie“, gibt Sven erklärend von sich.
Er streicht sich an seinem Hinterkopf durch die Haare. Ihm ist die Situation sicher ein wenig unangenehm, obwohl er sich ein Lachen verkneifen muss.
„Danke dir, Sven. Ich werde den Schluckspecht dann mal auf ihr Zimmer bringen. Gute Nacht.“
Mein Papa schließt die Haustür hinter uns und dirigiert mich die Treppe hoch in mein altes Zimmer. Ich plumpse wie ein Sack Mehl auf mein Bett, denn zur jetzigen Zeit fehlt mir einfach sämtliche Grazie und Anmut. Mein Dad fragt mich besorgt. „Geht’s dir gut, Alina?“
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