Geschafft sitze ich endlich hinter meinem Lenkrad. Was mache ich denn nun? Bei dem Gedanken, jetzt ohne alles dazustehen und nicht zu wissen, wohin, kündigt sich mir die nächste Runde Tränen an.
Während der halben Fahrt nach Prerow heule ich, was das Zeug hält. Ich bin es leid, mir wegen einem so untreuen, falschen und verlogenen Mistkerl die Augen auszuheulen. Meine Wut auf ihn wird immer größer. Mit leicht geöffnetem Fenster versuche ich die Rötung in meinem Gesicht und die Schwellung an meinen Augen ein wenig wegzuzaubern. Viel bringt es nicht, doch die Hoffnung stirbt ja bekanntlich zuletzt.
Es ist schon fast Mitternacht, als ich die Straße meiner Eltern erreiche. Mein Auto stelle ich an genau der gleichen Stelle ab wie heute Nachmittag. Im Wohnzimmer brennt noch Licht und ich sehe den Fernseher flackern. Wirklich Lust habe ich nicht, mich den Fragen meiner Eltern zu stellen. Da ich immer noch meinen Schlüssel besitze, bin ich nicht auf sie angewiesen. Ich bin ziemlich aufgewühlt und außerdem brauche ich jetzt etwas Hochprozentiges.
Ich steige aus meinem Auto, schließe es ab und hänge mir meine schwarze Ledertasche über eine Schulter. Zwei Straßen weiter befindet sich die Steinbar . Die gibt es schon, seitdem ich denken kann. Nur war ich seit meinem Schulabschluss nicht mehr dort und früher hieß die Bar auch anders. Ich ziehe meinen Blazer enger um meinen Körper, bis ich die Bar erreicht habe. Liegt es an dem Flüssigkeitsverlust durch meine Tränen oder hat es sich merklich abgekühlt? Für einen Sommermonat ist es einfach zu kalt. Meine geröteten Augen wird wohl jeder der Übermüdung und langen Autofahrt zuschreiben, deshalb mache ich mir jetzt nicht mehr die Mühe, sie mit Make-Up abzudecken. Ich ziehe die schwere Holztür auf und betrete die düster wirkende Bar. Schon vom Eingang her ist Gegröle und Lachen zu hören. Ich gehe weiter in Richtung Theke und entdecke zwischen den ganzen Kerlen meinen Bruder. Umringt von gut aussehenden Männern jeder Altersgruppe. Sie scheinen die ganze Bar zu unterhalten. Kerstin springt gerade Händchen haltend mit einem Exemplar von ihrem Barhocker runter und geht in die Ecke, in der wohl sonst eher weniger getanzt wird. Sie scheint es auszunutzen, dass sie ein tanzwütiges männliches Objekt gefunden hat.
Ich nähere mich ihnen und als er mich sieht, ruft Ole auch schon: „Alina, wie geil das du wiedergekommen bist!“
Alle Köpfe drehen sich in meine Richtung. Gott, wie unwohl ich mich in diesem Moment fühle. Ich danke Gott dafür, dass es hier drinnen recht dunkel ist, halt eine typische Barbeleuchtung, und dass man mein verheultes Gesicht sicher nicht wirklich ausmachen kann. Ich setze ein Lachen auf, denke mir Ole du dumme Nuss , und stelle mich zu dem so eingeschworen wirkenden Kreis. „Hallo, da bin ich wieder.“ Ich hebe meine Hand und grüße die Männer der Runde und alle grüßen höflich mit einem „Hallo“ zurück.
„He, Liiiinchen“, ruft meine Schwägerin in spe von der Tanzecke aus und winkt mir zu. Sie muss schon einiges getankt haben, so wie sie drauf ist . Vielleicht noch den Rest des Likörs?, denke ich . Den Typen scheint es nicht zu stören, denn sie reibt sich willig an ihn. Sieht das mein Bruder gar nicht? , geht es mir durch den Kopf . Ole, der mit zwei jungen Männern an der Bar steht, die ich noch von früher kenne, fragt mich verdutzt, aber auch nicht mehr ganz so klar wie am Nachmittag: „Wolltest du nicht schon längst mit Schatzi durch die Kiste rammeln?“
Die Typen neben mir fangen an zu grunzen. Ich winke nur ab und sage zu dem Kerl hinter dem Tresen: „Zwei Cosmopolitan und …“, dann muss ich die Typen erst mal zählen. Eins, zwei, drei, vier, fünf. „… und fünf Störtebeker, bitte!“ Ich schaue den langhaarigen Kerl an, der sich sein Geschirrtuch über die Schulter wirft. Hätte ich nicht so viel Zeit mit Zählen verplempert, hätte ich schon vorher sehen können, was für ein Mann da hinter der Bar steht. Ich reiße meine Augen weit auf und muss ein paarmal blinzeln.
„Sven?“, frage ich überrascht, weil ich jetzt mit einem alten, verlotterten Mann gerechnet habe. Aber nicht mit meiner Jugendliebe Sven Kräft. Gott, wie lang ich ihn schon nicht mehr gesehen habe. In meinem Bauch fängt es an zu arbeiten, Aufregung macht sich breit, Freude… Es müssten jetzt knapp zehn Jahre her sein. Ich frage noch einmal: „Sven Kräft?“, und gehe dabei ans Ende des Tresens. Sven kommt ebenfalls an das Ende und lächelt mich verschmitzt an. „Schaut so aus, Lin!“, sagt er mit einem Lächeln im Gesicht zu mir.
Sven ist der Einzige, der mich je Lin genannt hat, und wird auch der Einzige sein, der es jemals darf. Er breitet seine Arme aus, als die Bar nicht mehr zwischen uns steht, und wir umarmen uns. Wie gut das nach diesem scheiß Tag tut. Er riecht gut - herb, männlich und frisch. Das hätte ich mir eigentlich von Frank gewünscht. Stopp, falsche Gedankenrichtung! , saust es durch meinen Kopf. Wir lösen uns voneinander und schauen uns an. „Schön, dich zu sehen, nach der langen Zeit“, sage ich aufrichtig.
Sven nickt und lässt seine Augen über meinen Körper wandern. „Ja, du sagst es, Lin. Gut siehst du aus. Du bist eine richtige Frau geworden“. Während er das sagt, fahren seine Hände an meinen Armen entlang und halten schließlich meine Hände. „Doch ich muss dich enttäuschen.“ Ich werde sofort unsicher und schaue ihn fragend an, während er seinen Satz beendet. „Cosmopolitan hab ich zwar auf der Karte, doch noch nie gemixt. Entweder du mixt ihn dir selbst oder ihr bestellt etwas anderes, das auf der Karte steht. Für Cocktails ist immer Faye verantwortlich und die ist schon im Bett.“ Jetzt muss ich lachen.
„Ich habe gerade mit sonst was gerechnet, nur nicht damit. Okay, das machen wir so, wenn deine Freundin schon im Bett ist und du nichts dagegen hast“, ich folge ihm hinter den Tresen, er zieht mich an meiner Hand mit sich und ich schaue mich nach meinen Zutaten um. Ich suche mir alles zusammen, was ich für eine gute Mischung brauche und lege los.
Ich schüttele kräftig den Shaker, in den ich zuvor etwas Wodka, Cointreau, Limetten- und Cranberrysaft sowie einige Eiswürfel gegeben habe. „Sven, könntest du mir bitte zwei Martinigläser geben?“, frage ich liebreizend und blinzele ihn dabei verführerisch an.
„Aber klar doch“, gibt er grinsend zurück und stößt sich vom Tresen ab, um an das entsprechende Regal zu kommen. Er stellt die Gläser auf die Theke und da beginnt Katrin, ach nein, Kerstin auch schon zu sabbern.
„Geil, Linchen. So was kannst du?“ Meine zukünftige Schwägerin kriegt sich gar nicht mehr ein und hüpft auf und ab.
„Na sag mal, hat dir Ole nicht verraten, dass ich früher Meisterin im Cocktail mixen war?“, frage ich sie gespielt schockiert. „So was verlernt man doch nicht.“ Kerstin beginnt zu kreischen. O Gott, die merkt noch nicht mal im Suff, wenn man sie hochnimmt.
Ich spüre Sven hinter mir stehen und er flüstert: „Ich nehme an, du hast jahrelange Erfahrung.“ Grinsend gieße ich die Mischung in die Martinigläser und drehe mich um. Ich muss meine Arme seitlich halten, denn Sven steht jetzt genau vor mir.
„Darauf kannst du wetten.“ Jetzt muss ich auch lachen und drücke ihm den Shaker an seine Brust, sodass er gezwungen ist, ihn mir abzunehmen. „Ich darf doch?“, frage ich mit meinem Kinn auf die roten Cocktailkirschen zeigend.
„Bedien' dich!“, sagt der vor mir stehende gut aussehende dunkelblonde Mann, dessen lange Haare mit grauen Strähnen übersät sind. Ich stecke die zwei Kirschen an die Gläser und klatsche in die Hände. „Voilà! Es ist vollbracht.“
Die Männer auf der anderen Seite der Bar nehmen sich die neu entkorkten Störtebeker-Flaschen und wir Mädels uns unsere Martinigläser. „Auf das neue Traumpaar vom Darß“, proste ich mit meinem Glas in die Höhe.
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