An der Endhaltestelle weckte ich ihn. Schlaftrunken sah er sich um. Nur langsam begriff er, wo er sich befand. Wir waren die letzten Fahrgäste. Schmunzelnd sah uns der Straßenbahnschaffner nach. Mir war es peinlich, dass Konrad fast aus dem Waggon stolperte. Leicht schwankend ging er neben mir her. Die schweren Taschen schienen ihn mal nach links und mal nach rechts zu ziehen.
„Oh, hoppla! Schubst du mich etwa?“ Dabei machte er einen missglückten Versuch, verschmitzt zu grinsen.
Die Schrebergartensiedlung wirkte noch verschlafen. Hier und da öffnete gerade einer seine Laubentür, reckte sich in der Morgenluft und sah uns neugierig entgegen. Was mochte er denken beim Anblick des schwankenden Konrad und mir, mit dem versteckten Rosenstrauß in der Tasche. Sicher wussten sie alle, dass wir geheiratet hatten und jetzt auf dem Weg zur Laube, zu unserer Hochzeitsnacht waren. Ich war froh darüber, dass sich wenigstens bei unseren unmittelbaren Nachbarn noch nichts rührte. So konnten wir von ihnen ungesehen in die Laube gelangen, obgleich die Gartentür in der Stille des Morgens besonders laut quietschte.
„Treten Sie ein, gnädige Frau, in meinen paradiesischen Garten.“ Launig verneigte sich Konrad vor dem Gartentor vor mir, was ihn fast umgeworfen hätte.
„Paradies? Wo ist das? Ich sehe nur eine farblose Laube umgeben von einem Tabakwald“, stellte ich vergnügt richtig.
Doch er hörte nicht mehr hin, sondern schwankte bereits gähnend den Weg zur Laube, schloss die Tür auf und wollte darin verschwinden.
„Halt! Willst du mich nicht über die Schwelle tragen, wie es sich für einen jungen Ehemann gehört?“, rief ich und war mit wenigen Schritten bei ihm.
„Wenn es denn sein muss“, seufzte er, drehte sich um, ergriff mich und hob mich über die Schwelle. Die Tür schlug zu. Wir waren allein. Ein seltsames Flackern war in seinen Augen. Mir wurde heiß. Alle Hemmungen bröckelten. Ich drängte mich an ihn, schlang meine Arme fest um seinen Hals. Mich störte nicht sein alkoholgeschwängerter Atem. Unbeholfen, doch erwartungsvoll küsste ich ihn voller Liebe und Leidenschaft. Da machte er eine schwankende Bewegung, beinahe wären wir beide hingefallen. Spontan ließ er mich aus seinen Armen gleiten. Unsicher lächelte er. Jetzt erkannte ich erst richtig, wie müde und betrunken er war.
Er versuchte an mir vorbei zu sehen. „Verzeih, ich bin hundemüde“, erklärte er. „Himmel, was werde ich schlafen!“ Damit wandte er sich ab und torkelte in das kleine Schlafzimmer hinter der Küche.
War es eine Flucht? Aber wovor? Jetzt konnte er haben, worum er mich auf der Lichtung an der Havel gebeten hatte. Da stand ich erregt und bereit, mich ihm hinzugeben. Ungläubig und zögernd folgte ich ihm. Gleich würde er wieder nach mir greifen, mich mit all seiner Leidenschaft überschütten, dann könnte ich alle durch Erziehung und Moral aufgebauten Hemmungen fallen lassen, mich verlieren, in meiner Liebe zu ihm. So hoffte ich noch.
Ich zog den Vorhang zur Seite. Im spärlichen Licht, das durch das kleine Fenster drang, sah ich, dass Konrad die Betten in der Mitte des winzigen Schlafraumes zusammen geschoben hatte. Er hatte sich bereits an einer Seite in den nun schmalen Gang zwischen Wand und Bett gedrängt. Ungläubig verfolgte ich, wie er seine Schuhe von den Füßen stieß und sich auszuziehen begann, als wäre ich nicht da.
Hilflos und enttäuscht schaute ich zu ihm und klemmte verzweifelt die Tasche an mich, in der sich das für diese Hochzeitsnacht extra besonders ausgesuchte Nachthemd befand. Was sollte ich nur tun?
Konrad sah auf. Schon im Pyjama torkelte er auf mich zu und zog mich ins Zimmer. „Komm, Kleines, dort ist dein Bett. Der Tag war lang. Lass uns schlafen gehen.“
Dann wollte er sich wieder abwenden, erkannte aber wohl die aufsteigenden Tränen in meinen Augen und nahm mich kurz in seine Arme. „Morgen, Kleines, morgen“, versuchte er mich zu trösten. „Weißt du ... der Alkohol ... na ja, ich bin noch zu betrunken, da ... du weißt doch ... du hast doch noch nie“, stotterte er lallend. Dann löste er sich hastig von mir, als wäre er seiner selbst nicht mehr sicher, wankte zum Bett und ließ sich hineinfallen. Es war, als wäre ich für ihn nicht mehr vorhanden.
Längst verrieten seine ruhigen Atemzüge, dass er schlief, da stand ich noch immer zögernd vor meinem Bett. In diesem Augenblick sehnte ich mich nach meinem anheimelnden Jungmädchenzimmer. Was hatte ich mir für Gedanken gemacht, wie es sein würde, wenn ich mich vor seinen Augen zum ersten Mal ausziehen müsste. Ich hatte befürchtet, vor Verlegenheit zu versinken. Und nun? Sorglos konnte ich eine Hülle nach der anderen fallen lassen, ohne dass er mich auch nur mit einem Blick beachtete. Mir war zum Heulen!
Dann lag ich neben ihm. Ich konnte nicht schlafen, zu aufgewühlt war ich von all dem Geschehen dieses Tages. Ich lauschte auf die mir noch fremde Umgebung. Ein leiser Wind war aufgekommen und klapperte irgendwo am Schuppen mit einem Brett. Jemand fuhr mit einem Fahrrad knirschend auf dem Sand des Weges zwischen den Gärten entlang. Die Nachbarn waren erwacht und riefen sich freundliche Morgengrüße zu. Dies alles sollte mir einmal vertraut sein? So enttäuscht, wie ich jetzt war, fürchtete ich mich davor. Ich wollte versuchen Konrad zu verstehen. Doch es half nichts, es schmerzte, dass ich mich zum ersten Mal hingeben wollte und verschmäht wurde. Wie Hohn kamen mir seine Worte in den Sinn: „Ich will nicht lange warten!“ Wie hatte ich mir stets eine Hochzeitsnacht ausgemalt, voller Liebe und Leidenschaft. Ein Traum, der nun zerbrach.
Ausgerechnet jetzt kamen mir die oft gesprochenen Worte von Tante Emmy in den Sinn: „Die Männer sind alle Egoisten. Was fragen die nach den Gefühlen einer Frau.“ Ich sah sie dabei vor mir, in ihrer Hagerkeit, mit den verachtend heruntergezogenen Mundwinkeln.
„Aber Emmy!“, hatte Mama sie jedes Mal vorwurfsvoll gerügt und bezeichnenden zu mir gesehen.
Doch die Sorge von Mama war unnötig gewesen. Gegen diesen Ausspruch von Tante Emmy hatte ich mich sowieso aufgelehnt. War sie nicht selbst Schuld am Scheitern ihrer Ehe? Was konnte Onkel Emil dafür, wenn er nicht so klug war wie sie? Hätte sie ihn das nicht merken lassen, wäre er vielleicht noch heute bei ihr. So jedenfalls erzählte es Mama. Damit hatte ich mich früher immer in meine rosigen Zukunftsträume zurückgezogen. Nein, ich habe nie etwas dagegen gehabt, wenn Mama versuchte, alles Hässliche von mir fernzuhalten.
Und doch blieb mir das Schicksal von Mamas Cousine Gertrud nicht verborgen. Sie kam selten zu uns. Wenn, dann meistens nur, um sich auszuheulen. Mama schloss die Tür vor uns zu, wenn sie leise miteinander sprachen. Eines Tages aber hatte sie es vergessen. Ich konnte hören, wie Cousine Gertrud in der Küche Mama ihr Leid klagte über ihren untreuen Ehemann: „Nicht einmal mehr anfassen tut er mich, Meta. Nur sein Flittchen hat er im Sinn, diese junge unverschämte Person. Doch fürs Wäschewaschen bin ich ihm noch gut genug.“ Sie weinte sehr.
„Was willst du machen, Gertrud? Denke daran, dass du so wenigstens dein Auskommen hast, wenn du es auch sonst nicht ändern kannst“, redete Mama ihr zu.
Das sagte Mama? Ich konnte es kaum glauben.
Mama erschrak, als sie bemerkte, dass ich alles mit angehört hatte. „Das mit Gertrud und ihrem Mann ist wirklich eine Ausnahme“, versuchte sie mir damals zu versichern.
Wirklich?
Verrückt, jetzt enttäuscht von einer Hochzeitsnacht, die nicht so verlief, wie ich sie mir vorgestellt hatte, fielen mir diese unerfreulichen Beispiele ein.
Endlich überkam auch mich Müdigkeit. Noch einmal sah ich all die wissenden, fast lüsternen Blicke vor mir, die uns zum Abschied begleitet hatten. Woran hatten sie alle gedacht - und wie war es gekommen. Das Verlangen, unbändig zu lachen, überkam mich. Ich versuchte, es unter der Bettdecke zu ersticken. Doch Konrad schlief, er hörte es nicht.
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